
Protokoll des 11. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 20. November 1976
Allgemeine Information
W. Ott weist bei der Begrüßung darauf hin, daß am ZDV Tübingen auf der TR440 Programme zur Verfügung stehen, die eine Verarbeitung von Texten auch für Benutzer ohne Programmierkenntnisse ermöglichen.
Literatur
Aus dem Bereich der Registerplanungen - vorgesehen sind u.a. auch Namenregister,
Bibelstellenregister, Motivregister nach den Nummern bei
Stith Thompson - scheinen in einem Kreis von EDV-Benutzern
drei Komplexe hervorhebenswert:
Das Repertorium wird bei der Publikation in 4-6 Jahren etwa
12 Foliobände füllen. Ob das Material auch nach der Publikation
für Abfragen und Auswertungen über EDV zur Verfügung stehen
wird, läßt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehen.
Vereinfacht dargestellt, bieten sich dem
Geschichtswissenschaftler hinsichtlich der Quantifizierung
wie in Bezug auf ihre Umsetzung durch EDV jeweils zwei
Einstiegsmöglichkeiten: Er kann mathematisch-statistische
Verfahren und Modelle, zugeschnitten für historische
Fragestellungen, aus der internationalen Forschung
übernehmen bzw. an sie anknüpfen (nach wie vor besteht hier
ein Entwicklungs- und Erfahrungsvorsprung insbesondere in
den USA, in Großbritannien und Frankreich) oder sich "auf
eigene Faust" statistische Lösungswege nach den spezifischen
Bedingungen und Erfordernissen seiner Forschungsaufgabe
erarbeiten. Die Orientierung an Beispielen und Erfolgen der
hierin erfahreneren Sozialwissenschaften liegt dabei nahe.
Soweit die Anwendung der EDV in Frage steht, kann er die
benötigten Programme selbst "schreiben" - der
Software-Komfort seiner Rechenanlage spielt hierbei eine
große Rolle - oder auf sogenannte Programmpakete wie SPSS, OSIRIS
oder DATATEXT zurückgreifen. Im Idealfall wird er in beiden
Fällen Leistungen auf drei verschiedenen Ebenen erwarten,
nämlich in der Datenhaltung, Datenverarbeitung
(-bearbeitung) und Datenanalyse.
Beide Vorgehensweisen
implizieren Vor- und Nachteile. "Eigenprogramme" sind
maßgeschneidert, d.h. sie passen sich den Bedingungen und
Eigenheiten der zu verarbeitenden Daten an, nicht zuletzt
schon bei der Dateneingabe (Input-Plus); in nicht wenigen
Fällen werden aber Eigenprogramme das Optimum in der
Datenanalyse nicht oder nur bei einem unverhältnismäßig
hohen Programmieraufwand erbringen (Output-Minus). Bei der
Benutzung fertiger Programmpakete verhält es sich -
Ausnahmen bestätigen die Regel - genau umgekehrt.
Differenzierten und ausgefeilten Programmleistungen
(Output-Plus) stehen u.U. fatale Schwächen gegenüber.
Fraglich und fragwürdig ist vor allem: Steht das gewünschte
Programmpaket am örtlichen Rechenzentrum schon
zur Verfügung? Leisten die zur Verfügung stehenden Daten
das, was das Programm zu leisten in der Lage ist? Lassen
sich die Daten den Eingabevorschriften des Programmpaketes
anpassen? Mit welchem Aufwand? Mit welchem
Informationsverlust? Auf welche dem Programmpaket unterliegende
Modellvorstellung wird man fixiert?
Nach einem Befund von Wolfgang Bick (Bielefelder Arbeitstagung) schließt z.B.
SPSS (von etwa 50% der geschichtswissenschaftlichen
Projekte in der BRD, die mit maschinenlesbaren Daten
arbeiten, benutzt) bestimmte, in den 60er Jahren in den
USA vorherrschende Modellannahmen mit ein, vornehmlich
solche einer seinerzeit dominierenden Umfrageforschung,
die auf der Basis von m x n-Matrizen "über eine vorgegebene
Zahl von Individuen zu einem bestimmten Zeitpunkt
individuelle Merkmale erhob und dann Zusammenhänge zwischen
Variablen zur Erklärung heranzog" (Bick). Die weite
Verbreitung von SPSS bewirkt eine Perpetuierung dieser Modellannahmen
auch in der Geschichtswissenschaft, obwohl neuere
Entwicklungen längst komplexere Analyseansätze zu
Tage gefördert haben und hierfür z.T. auch brauchbare
EDV-Programme bereithalten. Es gilt, diese Fortschritte
durch einen vorschnellen und kurzsichtigen Rückgriff auf
ein gängiges und leicht beschaffbares Programmpaket wie
SPSS nicht zu verschütten.
Die angesprochenen neuen
Fragestellungen und Lösungswege konzentrieren sich
insbesondere auf die Erschließung, Beschreibung und
Analyse komplexerer und komplizierterer sozialer
Zusammenhänge und Strukturen. Eine kurze listenförmige
Bestandsaufnahme kann folgende, über die Modellannahme von
SPSS hinausführende Methoden (vorgestellt in Bielefeld von
Wolfgang Bick; in Klammern die dazugehörigen
EDV-Programme) nennen:
QUANTUM hat auf dem Historikertag in Mannheim im September 1976
einige Projekte, die mit quantifizierenden Methoden arbeiten,
vorgestellt. Auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft "EDV-Einsatz"
in Bielefeld wurden von fast allen Teilnehmern Arbeitspapiere
über laufende oder geplante Projekte mit EDV-Einsatz
vorgelegt. Darin zeichnet sich ab, daß mit EDV vorwiegend
in folgenden Forschungsbereichen der Geschichtswissenschaft
gearbeitet wird:
Die Bedingungen, unter denen in den vorgestellten
Projekten EDV angewendet wird, erwiesen sich als recht
unterschiedlich. Nur wenige Historiker programmieren, unter
Beratung der zuständigen Rechenzentren, selbst. Einige
arbeiten mit befreundeten EDV-Fachleuten zusammen, die
Mehrzahl verwendet Programmpakete, die jedoch nicht für
historische, sondern für sozialwissenschaftliche
Bedürfnisse zugeschnitten sind, vorwiegend SPSS.
Wegen der Begrenztheit der Fragestellungen, die mit
diesem Paket für historische Forschungsansätze zur Verfügung
stehen, wird sein Einsatz jedoch von vielen als ein
Notbehelf empfunden. Nur ein Team (Historische
Demographie, Prof. Imhof, FU Berlin) hat einen eigenen
Programmierer und einen Statistiker zur Verfügung.
Zum Gesamtbild des Komplexes "EDV in der Geschichtswissenschaft"
läßt sich aufgrund der Erfahrungen auf diesen beiden Tagungen sagen:
Vollständige Liste der Referate in: "QUANTUM
Information" No. 1 (December 1976) S. 12-14
Erwünscht wäre die Anfertigung von Programmen, die
- nach der Art von Fertigbauteilen - über den Zweck ihrer
speziellen Anwendung hinaus auch von anderen Projekten ohne
größeren Anpassungsaufwand übernommen werden könnten. Diese Arbeit
könnte wohl nur von einem hauptamtlichen Arbeitsteam unter
Berücksichtigung der wichtigsten methodischen und
praktischen Erfordernisse geleistet werden.
Voraussetzung dafür wäre eine gezielte Ermittlung der
Bedürfnisse und ihre Bewertung; dies soll Aufgabe des 2.
Bielefelder Treffens sein.
Renate Birkenhauer (Deutsches Seminar)
Kurzbericht über das Internationale Kolloquium
Die automatische Übersetzung, zuletzt noch totgesagt in
einer großen Anzeige der IBM (FAZ 28.8.75), erlebt nach
Euphorie und Resignation eine Phase des Realismus: man
versucht das Machbare. Für diesen Eindruck sorgte die
europäische Gruppe Leibniz, die mit Grenoble, Paris und dem
Gastgeber des Kolloquiums, dem SFB 100 in Saarbrücken, am
stärksten repräsentiert war. Sie erarbeitet ein
mehrsprachiges, automatisches Übersetzungsverfahren für den
Bedarf der Europäischen Gemeinschaft (EG).
"Automatische Lexikographie, Analyse und Übersetzung"
vom 23.-25. Sept. 1976 in Saarbrücken
Dagegen erörterten die Berichterstatter der praxisorientierten
Projekte konkrete, jeweils auf ein Sprachenpaar
bezogene Identifikationsverfahren. Hier wird der Output des
Analyseschritts in einer Form strukturiert, die sich an der
Synthesegrammatik für die jeweilige Zielsprache orientiert.
Bernard Vauquois (Grenoble) führte eine morphologische
Analyse des Französischen am Sichtgerät vor, und beim SFB
100 konnte man die Übersetzung einzelner Sätze für die
Sprachenpaare Englisch-Deutsch, Russisch-Deutsch und
Esperanto-Deutsch am Bildschirm verfolgen.
Automatische Lexikographie, Analyse und Übersetzung.
Internationales Kolloquium vom 23.9.-25.9.1976.
Saarbrücken, Universität des Saarlandes:
SFB Elektronische Sprachforschung. Preprints (1976).
Diskussion
Das Saarbrücker Wörterbuch steht auch auswärtigen
Interessenten, z.B. für Auftragsanalysen, zur Verfügung. Das
Wörterbuch umfaßt den aktuellen Wortschatz des modernen Deutsch
und wird ständig ergänzt,
Burghart Wachinger (Deutsches Seminar)
Erstellung eines Repertoriums des Meistergesangs (14.-18. Jh.)
An zwei von der deutschen Forschungsgemeinschaft
finanzierten Arbeitsstellen wird zur Zeit ein Repertorium
der Sangspruchdichtung und des Meistergesangs vom 14.-18.
Jahrhundert erarbeitet. Es soll die ca. 16.000 überwiegend
nicht edierten Lieder dieser Tradition in drei Katalogen
(Verzeichnis der Handschriften und Drucke, Verzeichnis der
Lieder, Verzeichnis der Töne), die ihrerseits durch
zahlreiche Register erschlossen werden, für die Forschung,
insbesondere für literatur-, bildungs- und
frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchungen zugänglich machen.
Eine Arbeitsstelle am Deutschen Seminar der Universität
Tübingen unter Leitung von Burghart Wachinger erfaßt die
älteren Lieder (bis ca. 1520), eine Arbeitsstelle an der
Stadtbibliothek Nürnberg unter Leitung von Horst Brunner
die jüngeren Lieder. Das Material wird in maschinenlesbarer
Form aufbereitet. Der Einsatz der EDV (unter Leitung von
Paul Sappler, Tübingen) soll später den Druck durch
Lichtsatzprogramm und die Erstellung der Register und schon
jetzt die Benutzung vorläufiger Register zu Kontrollzwecken
während der Arbeit ermöglichen.
Diskussion
Der Nachweis der Bibelstellen im Register erfolgt nur, wenn
diese explizit genannt sind. Ein weitergehender Nachweis
scheitert an dem erforderlichen Aufwand bzw. an der verfügbaren
personellen Kapazität.
Erdmann Weyrauch / Ingrid Batori (SFB 8 Spätmittelalter
und Reformation)
Der Einsatz von EDV in der Geschichtswissenschaft.
Überblick anhand einer Arbeitstagung vom 23.-24.10.1976 in Bielefeld und einschlägiger Referate
vom Deutschen Historikertag vom 22.-26.9.1976 in MannheimErdmann Weyrauch
Methodische Bemerkungen zur Quantifizierung /
EDV-Anwendung in der Geschichtswissenschaft
Der quantifizierende und EDV anwendende Historiker, der
immer noch gegen Unkenntnis, Mißverständnisse und
Vorurteile innerhalb seiner Disziplin anzukämpfen hat,
befindet sich in der schwierigen Situation, Methoden und
Medien, die ihrerseits zügigen Innovationsprozessen
unterworfen sind, erlernen und handhaben zu müssen.
Ingrid Batori
Bericht über laufende Projekte mit
EDV-Anwendung in der Geschichtswissenschaft
In der deutschen Geschichtswissenschaft ist von den
Möglichkeiten der EDV bisher nur sehr zögernd Gebrauch
gemacht worden. In jüngster Zeit scheint sich jedoch eine
Tendenzwende abzuzeichnen;
dafür spricht die Gründung der
QUANTUM Arbeitsgemeinschaft für Quantifizierung und Methoden
in der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung e.V.,
5000 Köln, Vondelstraße 56-58
und das erste Zusammentreten einer Arbeitsgemeinschaft
"EDV-Einsatz in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des
Mittelalters und der Frühen Neuzeit"
im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der
Universität Bielefeld auf
Initiative von Prof. Franz Irsigler im Oktober 1976.
Diskussion
Neben der gelegentlichen Diskriminierung der Arbeit
mit EDV wirkt sich auch die weitgehende Isolierung der
einzelnen Projekte nachteilig aus. Eine Projektsammlung und
-publikation durch QUANTUM ist in Vorbereitung.
(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den
Referenten zur Verfügung gestellt).
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Übersicht über die bisherigen Kolloquien
tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 18. März 2002