Protokoll des 14. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 18. Februar 1978

 

Allgemeine Informationen

  1. Die Kataloge der Literaturbibliothek des ZDV wurden erstmals über eine COM-Service-Firma vom Magnetband direkt auf Microfiche (mit Groß- und Klein-Schreibung) verfilmt. Die Kosten für das erste Exemplar auf Microfiche sind etwa gleich hoch wie für die normale Ausgabe über Schnelldrucker (etwa 0,05 DM pro verfilmte Schnelldruckerseite), alle weiteren Exemplare sind dagegen billiger (die Kopie eines Fiches, das 207 Schnelldruckerseiten aufnehmen kann, kostet etwa 0,60 DM). Von der Möglichkeit, Daten auf Microfiche auszugeben, können auch die Benutzer des ZDV Gebrauch machen.
  2. Die Anwesenden geben ein einstimmiges Votum für die Weiterführung der Textsammlung durch das LIBRI-Projekt am Darthmoure College in Hannover/USA ab.

 

Hubert Cancik (Philologisches Seminar)

Stichwortverweiskontrolle für ein neues
"Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe"

I. Das Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (HrwG)

1. Forschungsstand

Ein Wörterbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe gibt es bisher nicht. Der Grund ist u.a. in der Schwierigkeit religionswissenschaftlicher Begriffsbildung zu suchen. Viele der gegenwärtig noch verwandten Begriffe sind historisch gewachsen, meist aus Einzelreligionen verallgemeinert, wie etwa: "Schamanismus" oder "Totemismus". Dies sind verallgemeinerte Spezialbegriffe: Ihre Abstraktionsebene ist sehr verschieden; die Übertragbarkeit auf andere Religionen ist oft umstritten.

Eine Welle von neuen Begriffen dringt seit etwa 50 Jahren in die Religionswissenschaft. Sie kommt aus der Religionssoziologie, aus Psychologie und Verhaltensforschung, aus der Anthropologie, den Kulturwissenschaften im weitesten Sinne. Es handelt sich um Begriffe wie "Sublimation" oder "Interaktion".

Die Tübinger Religionswissenschaft ist bestrebt, die neuen Human- und Gesellschaftswissenschaften mit den alten historischen, deskriptiven, "geisteswissenschaftlichen" Fächern und Methoden zu verbinden. Eine Möglichkeit dazu ist das HrwG.

2. Aufgaben

Das HrwG hat folgende Aufgaben:

  1. Aufnahme aller zur Zeit gebräuchlichen religionswissenschaftlichen Begriffe; die theoretische, systematische methodologische Ebene soll möglichst vollständig erfaßt werden; soweit nötig und möglich, wird eine einheitliche Sprache angestrebt.
  2. Ausschaltung antiquierter Begriffe bzw. ihre Zuordnung zu neueren und besseren.
  3. Verdeutlichung des systematischen Zusammenhangs durch Verweise; dies ist in der Arbeitsphase besonders wichtig.

II. Der Einsatz von EDV

1. Art, Umfang und Aufnahme des Materials

Der Gesamtumfang des Handbuches, das innerhalb einer Reihe erscheint, ist vorgegeben: 2 Bände zu je ca. 900 Seiten. Vorgesehen sind 550 Artikel, die von etwa 30 Mitarbeitern geschrieben werden sollen. Diese Artikel wurden folgendermaßen klassifiziert:

  • Klasse 1: Dachartikel (ca. 130); sie erfassen die religionswissenschaftlichen Grundbegriffe.
  • Klasse 2: Sachartikel (ca. 120); Anwendung und Demonstration in besonders interessanten Fällen, z.B. "Christologie" oder "Ahnenkult". Diese Artikel stellen die Verbindung zu konkreten Religionen her, zu besonderen religionswissenschaftlichen Erscheinungen, die religionswissenschaftlich gut aufgearbeitet sind.
  • Klasse 3: Definitionsartikel (ca. 300); sie sollen antiquierte Begriffe kritisieren, umdefinieren, ausschalten.
  • Klasse 4: Miniartikel.
  • Klasse 8: reine Verweise.
  • Klasse 0: Artikel mit noch nicht festgelegter Klasse.

Die Daten werden nach festgelegten Schreibkonventionen mit Kennzeichnung folgender Elemente eingegeben: Stichworte mit Klassenangabe; Bearbeiter/Betreuer; Verweise; Kommentare; Begriffe, die in einem Artikel behandelt sein sollen, die vielleicht ins Register kommen, aber kein eigenes Lemma erhalten.

2. Leistungen der Programme

Zu jedem Zeitpunkt der Bearbeitung können folgende Listen erstellt werden:

  1. Gesamtliste aller Stichworte in alphabetischer Reihenfolge mit Verweisen, Kommentaren, Bearbeitern.
  2. Einzellisten aller Stichwortgruppen, z.B. aller Dachartikel.
  3. Bearbeiter/Betreuerliste, die zeigt, wer welchen Artikel bearbeitet oder betreut. Bei einem weiter fortgeschrittenen Arbeitsstand können hier Angaben über Eingang und Zustand der Manuskripte angebracht werden.
  4. Invertierte Verweisliste: Die Umdrehung zeigt, von welchen Artikeln auf welche verwiesen wird. Dabei wird z.B. deutlich, ob ein Begriff "in der Luft hängt", an keinen übergeordneten Begriff angebunden werden kann, d.h. nicht in das Begriffssystem integriert ist.
  5. Teilausdrucke für die Bearbeiter: Jedem Mitarbeiter wird der "Kontext" des Begriffes mitgeteilt, den er bearbeitet.

Während der Bearbeitung können die Daten laufend ergänzt und korrigiert werden. Die Zuweisung bestimmter Stichworte an eine Klasse kann geändert werden, wobei die Folgekorrekturen automatisch durchgeführt werden.

3. Stand der Arbeiten

Nach Sichtung ähnlicher Wörterbücher und Handbücher wurde ein eigenes Stichwortverzeichnis erstellt. Zur Zeit wird an der Strukturierung der Artikel gearbeitet, indem Verweisreihen den einzelnen Begriffen zugefügt werden.

Ob und in welchem Ausmaß der Einsatz der EDV erweitert werden kann, ist noch nicht entschieden. Es bieten sich an: die Aufnahme der Bibliographie, Kontrolle der Abkürzungen und Zitierweise.

Diskussion

Die erwähnten Listen wurden ausschließlich mit den Standardprogrammen der Abteilung LDDV hergestellt. Je Liste waren nur wenige Parameterkarten erforderlich. Notwendige Änderungen sind daher jederzeit mit geringem Aufwand durchführbar.

Es wird angeregt, die Begriffssystematik des HrwG einer Bibliographie zur Religionswissenschaft zugrundezulegen und das Material gegebenenfalls in eine Datenbank einzugeben.

Verknüpfung der Grundbegriffe mit bibliographischen Daten ist geplant, vor allem zur Unterstützung der Bearbeiter mit Literaturangaben. Ein weiterer Ausbau über die Herstellung des HrwG hinaus wird aus finanziellen Gründen kaum möglich sein, jedoch ist die Einbringung des Projektes in ein geplantes Theologisches Dokumentationssystem denkbar.

 

Renate Birkenhauer (Deutsches Seminar)

Automatische Phonemanalyse für die Erstellung eines Reimwörterbuchs zu Stefan George

Das geplante Reimwörterbuch ist Teil einer Dissertation über die Reimtechnik Stefan Georges. Bei seinem Versuch, der Dichtersprache seiner Zeit neue Ausdruckskraft abzugewinnen, spielten klangreine, unverbrauchte, möglichst nur einmal zu verwendende Reime eine wesentliche Rolle. Das Wörterbuch soll Auskunft geben über Neuschöpfungen und Wiederentdeckungen von Reimen, über ihre Häufigkeit und Stellung.

Die Reime werden maschinell ermittelt und geordnet, aber nicht, wie bisher üblich, nach ihrer orthographischen Gestalt, sondern phonemisch, und zwar aus zwei Gründen:

  1. Die Schriftgestalt gibt die lautliche Realisierung eines Wortes nicht unbedingt getreu wieder. Die Unterschiede liegen auf verschiedenen grammatischen Ebenen. (Wörter wie behend und rennt oder fällt, Geld, Wolkenzelt würde die Maschine nicht als Reime erkennen können.)
  2. Als Endreim gilt der Gleichklang zweier Wörter von ihrem letzten betonten Vokal an. Bei Mehrsilbigkeit oder Mehrwortreimen müßte die Maschine unterscheiden können, welcher das ist. (Wörter wie Zelt und wurzelt würde sie nach der Schriftgestalt u.U. unter demselben Reimtyp -ELT einordnen.)
Eine Kennzeichnung von Hand scheidet aus einem prinzipiellen Grund aus: Dasselbe Programm, das die Endreime identifiziert, sollte auch in der Lage sein, andere Klangstrukturen innerhalb der Verszeile zu registrieren (Binnenreime, Assonanzen, Alliterationen und ein vielfältiges Spiel mit verwandten Konsonanten). Beim Aufspüren solcher verdeckten klanglichen Organisation, die wesentlich zur Georgeschen Reimtechnik gehört, ist aber ein Einzelner überfordert. Eine maschinelle Klanganalyse arbeitet unbestechlicher und exakter.

Es gilt also, die textgetreu aufgenommenen 740 Gedichte (oder knapp 12.000 Verse) in ihre phonemische Repräsentation zu überführen. Voraussetzung dafür ist eine Morphemanalyse, bei der Stimmlosigkeit, Vokallänge, Auslautverhärtung, unbetontes "e" in Flexionsendungen eindeutig identifiziert werden.

Diese Analyse geht in drei Schritten vor:

  1. Im Hauptprogramm wird die Bauformel eines Wortes abgefragt, nämlich wieviele Vokale es enthält, wo sie anfangen und enden. Damit sind die Grenzen zu den Konsonanten und deren Anzahl auch bekannt. Mit diesen Informationen versehen wird das Wort - je nach der Anzahl seiner Vokale - gleich in das Unterprogramm für die entsprechende Silbenzahl delegiert, und unnötige Abfragen, die für einen bestimmten Strukturtyp überhaupt nicht relevant werden, bleiben erspart.
  2. Im Unterprogramm verzweigt sich die Abfrage nach der Zahl der Konsonanten zwischen den Vokalen. So können die möglichen Strukturtypen einigermaßen rationell abgefragt und die Morphemgrenzen sowie die Vokallänge festgelegt werden.
  3. Im 3. Schritt geschieht die Umkodierung der Buchstaben in die Phonemzeichen, die - entsprechend ihrer vorher festgestellten Position im Wort - aus dem Anlaut-, Inlaut- oder Auslautinventar der konsonantischen Phoneme bzw. den Inventaren für lange oder kurze Vokale, jeweils unterteilt nach Anlaut und Inlaut, abgerufen werden.

Dabei gibt es natürlich unlösbare Fälle, aber das Ziel ist, immer mehr grammatische und strukturelle Informationen zu aktivieren, sodaß ihre Zahl gering bleibt und bequem in einer Liste erfaßt werden kann.

Nach der Morphemanalyse kann dann mit der Ermittlung der Reime begonnen werden:
Das Programm ordnet jedem Phonem seine distinktiven phonetischen Merkmale in Form einer binären Matrix zu und prüft innerhalb eines Gedichts jeweils vom Ende jeder Verszeile her auf Übereinstimmung dieser Merkmale ab. Der tatsächliche Reimvokal wird als dasjenige vokalische Phonem erkannt und mit einem Sonderzeichen markiert, nach dem, vom Ende her gesehen, die Übereinstimmung aufhört (wenn der Vergleich nicht schon vorher wegen Nichtübereinstimmung abgebrochen wird). Unreinheit von Reimen ist definiert als Nichtübereinstimmung in einem einzigen Merkmal, z.B. dem der Stimmhaftigkeit bei laden : raten oder der Vokallänge bei grüßen : müssen.

Damit ist der Reimtyp ermittelt, unter dem das Wort und sein Partner im Verzeichnis der Reimbindungen erscheinen werden.

Diskussion

Das Programm arbeitet ohne eine Wörterliste; als einzige vorgegebene Hilfe für die automatische Umwandlung der orthographischen in die phonemische Wortgestalt werden folgende drei Listen benutzt:
  1. Liste der offenen und geschlossenen Präfixe
  2. Liste der möglichen Schwa-Endungen
  3. Liste für abtrennbare Partikel.
Die Homographentrennung (z.B. sucht : Sucht) erfolgt durch Präkodierung (sucht1 : Sucht2). Die Präkodierung dient jedoch nicht als Ersatz für Leerstellen in der theoretischen Konzeption; für unlösbare Fälle (außer Homographen) erfolgen keine Eingriffe in die Daten von Hand.

Für die Entscheidung über Zweifelsfälle gibt die lautliche Strukturierung der Parallelzeile Hilfen (z.B. gibt mit kurzem oder langem "i", Schwert mit kurzem oder langem "e"). Diese Hilfen können aber nicht zur Entscheidung über Reinheit oder Unreinheit eines Reimes dienen.

 
(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verfügung gestellt.)


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Übersicht über die bisherigen Kolloquien
tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 17. April 2002