Protokoll des 31. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 30. Juni 1984

 

Allgemeine Informationen

  • Ende Juli 1984 wurde am ZDV Tübingen der TR440-Rechner außer Betrieb gesetzt. Der Nachfolgerechner ist eine IBM-kompatible BASF 7/88, die unter dem Betriebssystem MVS läuft. TUSTEP wird frühestens ein halbes Jahr nach der Installation auf der neuen Maschine zur Verfügung stehen.
  • Im Juni 1984 ist die neue mit TUSTEP erstellte Edition des "Ulysses" erschienen
    (vgl. das Protokoll des 18. Kolloquiums vom 30.6.1979):
    James Joyce "Ulysses". A critical and synoptic edition.
    Prepared by Hans Walter Gabler.
    3 Volumes.
    New York and London: Garland Publishing Inc. 1984

 

Gottfried Reeg (Berlin)

Spaltensynopse und Zeilensynopse als Darstellungsformen textkritischer Editionen

Summary: Column Synopsis and Line Synopsis as Forms for Textcritical Editions

A traditional edition that attempts to reconstruct one original text does not do justice to the diverse textual tradition of Rabbinical texts. The form of a column synopsis, therefore, was selected for the edition of the Story of the Ten Martyrs. In addition to the basic manuscripts in the text section, variants from other manuscripts are presented in an apparatus. Textual similarities in the individual lines are given special consideration in this edition, whereas the same sections are placed side-by-side in the synopsis to the Hekhalot literature. The TUSTEP programs were more extensively used for compilation of the line synopsis of an edition of the Geniza fragments to the Hekhalot literature than for the column synopsis.
 

1. Die Spaltensynopse

1.1. Die Edition der Geschichte von den Zehn Märtyrern

Bei der Durchsicht der Handschriften zu der Geschichte von den Zehn Märtyrern (Ma'ase 'Asara Haruge Malkhut) zeigte sich bald, daß eine herkömmliche Ausgabe - ein Text mit Apparat - der Vielfalt der Textüberlieferung nicht gerecht werden würde. Die neunzehn Handschriften, die für eine Textedition zu berücksichtigen sind, verteilen sich auf zehn verschiedene Rezensionen: fünf, zu denen es jeweils nur einen Textzeugen gibt, und fünf, zu denen mehrere Handschriften vorliegen. Die kürzeste Rezension umfaßt 800 Wörter, die längste 7300 Wörter. Der Charakter dieser Rezensionen sollte bei einer Edition erhalten bleiben und nicht in einem Apparat verschwinden.

Aus diesem Grund bot sich eine synoptische Darstellungsform an. Da in einigen Partien die Texte ziemlich stark voneinander abweichen, schien es günstiger zu sein, die Texte in der Form einer Spaltensynopse mit einem kritischen Apparat zu edieren, als die Form einer Zeilensynopse zu wählen.

1.1.1. Der Apparat
Die Handschriften wurden nicht manuell kollationiert, sondern alle Handschriften wurden in vollem Umfang maschinenlesbar erfaßt. Gab es für eine Rezension mehrere Handschriften, so wurde die Grundhandschrift mit den anderen Handschriften maschinell verglichen. (Zu den Problemen des maschinellen Vergleiches siehe die Kurzfassung meines Referates beim
12. Kolloquium vom 2.7.1977: "Maschineller Vergleich von Textzeugen zur Vorbereitung einer kritischen Edition".) Anschließend konnten die Varianten zusammensortiert und maschinell mit den Kennungen versehen werden, die für eine Weiterverarbeitung notwendig waren. Auch die Angaben für einen Handschriftenapparat - wie Folioangaben, Streichungen und Korrekturen - konnten maschinell aus den Texten zusammengestellt werden, während die Angaben für den Parallelstellenapparat in einer Datei aufgenommen wurden, die dann weiterverarbeitet wurde.

1.1.2. Der Text
Beim Text stellten sich drei grundsätzliche Probleme:

  1. Wie können die Stücke einander zugeordnet werden, die in der Synopse nebeneinander stehen?
  2. Wie kann erreicht werden, daß in einer Spaltenzeile jeweils der entsprechende Text steht?
  3. Wie wird verfahren, wenn Stücke in den einzelnen Rezensionen in unterschiedlicher Reihenfolge stehen?
Zu 1.:
Die einzelnen Stücke, die in der Synopse nebeneinander stehen sollten, mußten manuell einander zugeordnet werden. Für diese Zuordnungen wurde der Text einer jeden Rezension in gleiche Sinnabschnitte (= Sätze) unterteilt, die so numeriert wurden, daß gleiche Abschnitte gleiche Satznummern erhielten. Durch den Zugriff auf die Satznummer war dann gewährleistet, daß aus jeder Textdatei der gleiche Text eingelesen wurde.

Zu 2.:
Textgleichheit in den Spaltenzeilen war am einfachsten über die Zahl der Wörter zu erreichen. Um die gleiche Wortzahl in allen Texten zu erreichen, wurden die Texte alle untereinander verglichen und die fehlenden Wörter dann mit einer Kennung, die die spätere Eliminierung im Druck ermöglichte, eingetragen.

Zu 3.:
Wegen Umstellungen des Textes in den einzelnen Rezensionen mußte der Text für die Synopse versetzt werden. Dies erfolgte immer in beide Richtungen, so daß an jeder Stelle ein synoptischer Überblick möglich ist und andererseits auch der Duktus einer Rezension erhalten blieb. Die versetzten Stücke wurden in einer kleineren Type gedruckt.

Bei der Verarbeitung der einzelnen Sätze wurden drei Typen von Text unterschieden. Auch diese Differenzierung geschah über die Satznummer:

  1. Gleicher Text: Der Text der einzelnen Rezensionen stimmt soweit überein, daß er Wort für Wort zugeordnet werden kann. Er wird so eingetragen, daß in jeder Spaltenzeile der gleiche Text steht und Platz frei bleibt, wenn ein Wort fehlt.
  2. Der Paralleltext: Der Text läuft parallel, aber er läßt sich nicht Wort für Wort zuordnen. Es wird nur auf Gleichheit bei Abschnitten in den Spalten geachtet.
  3. Gleicher Text und Paralleltext können miteinander kombiniert werden.
  4. Einschub: Ein längeres Stück Text findet sich nur in einer Rezension. Der Text wird über die ganze Seitenbreite verteilt, damit nicht über mehrere Seiten nur je eine Spalte mit Text gefüllt wird.

1.1.3. Die Programme
Folgende Angaben können über Parameter gesteuert werden:

  1. Bis zu 10 Rezensionen können verarbeitet werden. Für die Anzahl der Spalten können bei einem Programmlauf bis zu fünf verschiedene Konstellationen angegeben werden. Mit der Anzahl der Spalten kann auch die Spaltenbreite geändert werden. Werden Apparateinträge verarbeitet, kann eine solche Änderung erst beim nächsten Seitenwechsel berücksichtigt werden, sonst kann sie auf der aktuellen Seite erfolgen.
  2. Die Spalten können auf eine oder zwei Seiten verteilt werden.
  3. Gekennzeichnete Einträge können zwischen den Spalten eingefügt werden.
  4. Die Zeilenzählung kann am linken oder rechten Rand stehen.
  5. Beim Apparat ist für alle Rezensionen ein gemeinsamer Apparat vorgesehen. Zusätzlich sind für jede Rezension drei weitere Apparate möglich. Es muß angegeben werden, welche Rezensionen Apparate haben. Der Apparat kann auch - so vor allem bei einem breiten Format - auf mehrere Spalten verteilt werden.
  6. Ein lebender Kolumnentitel ist möglich.
1.1.4. Zum Arbeitsablauf
  1. Die verschiedenen Apparate wurden zusammengestellt.
  2. Die Texte wurden aufbereitet und auf die Synopsensätze umgestellt.
  3. Umgestellte Stücke in den Rezensionen wurden versetzt.
  4. Die Rezensionen wurden untereinander verglichen und die fehlenden Wörter jeweils eingefügt.
  5. Die Appparateinträge wurden in den Text eingefügt.
  6. Zeilen- und Seitenumbruch wurden mit dem Synopsenprogramm berechnet.
1.2. Die Synopse zur Hekhalot-Literatur

Die Synopse zur Hekhalot-Literatur ist Teil eines Projektes zur Erforschung und Erschließung der sogenannten esoterischen Literatur des rabbinischen Judentums, das von Peter Schäfer in Köln im Herbst 1978 begonnen wurde. Da es zu diesen Texten der frühen jüdischen Mystik noch keine kritischen Ausgaben gibt - auch eine Abgrenzung der Texte, die zu dieser Literatur zu zählen sind, ist noch offen - wurden zunächst sieben Handschriften in einer Synopse zugänglich gemacht. Diese Handschriften bildeten neben vier weiteren Handschriften und den Geniza-Fragmenten dann auch die Basis für eine Konkordanz (siehe unten).

Bei dieser Synopse wurde kein kritischer Apparat benötigt, da die sieben Handschriften nebeneinander abgedruckt wurden. Dafür wurden die Texte in Paragraphen (= Synopsensätze) unterteilt, die dann mit dem Synopsenprogramm weiter verarbeitet wurden.
 

2. Die Zeilensynopse

Zusätzlich zur Synopse der sieben Handschriften sollten Fragmente zur Hekhalot-Literatur aus der Kairoer Geniza publiziert werden, da sie zum Teil aus einer beträchtlich früheren Zeit stammen. Um die Textvarianten in den Partien, in denen sich der gleiche Text auch in der Synopse findet, auf einen Blick zu zeigen, erschien eine Zeilensynopse als geeignete Darstellungsform. Die Arbeiten für diese Zeilensynopse gestalteten sich um einiges einfacher als die für die Spaltensynopse, da mehr Arbeitsvorgänge durch TUSTEP-Programme abgedeckt waren. Der Arbeitsaufwand dürfte bei beiden Formen aber wohl gleich groß sein. Der Arbeitsablauf gestaltete sich wie folgt:

  1. Alle Texte wurden maschinell mit dem Grundtext verglichen.
  2. Die Vergleichsergebnisse wurden manuell korrigiert.
  3. Es wurde mit dem TUSTEP-Programm V(ERGLEICH)AUFBEREITE eine Zeilensynopse für den Zeilendrucker erstellt.
  4. Dieses Protokoll konnte jedoch nicht in dieser Form gesetzt werden, da sich beim Satz die Breite eines Wortes nicht nach der Anzahl der Buchstaben richtet, sondern nach den Dickten der Buchstaben. Aus diesem Grund mußte das Protokoll umgesetzt werden, indem für jedes Wort die Breite berechnet und die Positionierung in der Zeile eingetragen wurde. Zusätzlich wurde in dem Programm dann auch der neue Zeilenumbruch berechnet. Der Seitenumbruch erfolgt dann erst beim abschließenden Satz mit dem Satzprogramm von TUSTEP.

 

Gottfried Reeg (Berlin)

Konkordanz zur Hekhalot-Literatur

Summary: Concordance to the Hekhalot Literature

A concordance was compiled from the two editions of the Hekhalot literature mentioned above. One comprehensive manuscript was taken as the basic text, only important variants from the other manuscripts are considered in the concordance. Lemmatization was possible with the TUSTEP program KOPIERE.
 

Im Rahmen des oben erwähnten Hekhalot-Projektes wurde als Hilfsmittel für die weitere Arbeit eine Konkordanz erstellt.

1. Die Auswahl des Textes
Um jede Belegstelle für ein Wort in der Synopse bzw. in den Handschriften zu finden, genügt es, den vollständigen Text einer Handschrift als Grundlage zu nehmen und aus den übrigen Handschriften nur die wichtigen Varianten und das Sondergut hinzuzunehmen. Deshalb wurden alle Handschriften mit dem Grundtext automatisch verglichen; im Vergleichsergebnis wurden die aufzunehmenden Varianten gekennzeichnet. Als Kriterium dafür galt, ob der Eintrag zum gleichen Lemma zählte oder nicht. Bei Engel- oder Gottesnamen wurden jedoch alle Varianten berücksichtigt.

2. Die Abkürzungen
Es wurde ein Register der Abkürzungen erstellt, die für die Konkordanz in mehrere Wörter zerlegt werden mußten. Diese Abkürzungen wurden im Register aufgelöst und in dieser Form anhand der Wort- und Satznummern in den Text eingetragen. Erst dann wurde der Text für die Konkordanz zerlegt.

3. Der Kontext
Schon bei der Aufnahme der Handschriften wurde der Text in Sinnabschnitte (= Kontext) unterteilt, um eine willkürliche Abtrennung des Textes zu vermeiden. Je einem Kontext entsprach ein Satz in der Datei, der außerdem die Paragraphennummer aus der Synopse, ein Kürzel für die Handschrift und die Zeilenzählung der Handschrift enthielt. Diese Datei wurde in Wörter zerlegt. Nach der Sortierung wurde dann jeder Worteintrag anhand der Satznummer mit dem Kontext aus der Kontextdatei versehen.

4. Die Lemmatisierung
Da für eine Lemmatisierung kein Lexikon zur Verfügung stand, wurden bei der Textaufnahme die Vorsilben abgetrennt, um ein maschinelles Bestimmen der Formen zu erleichtern. Mit dem TUSTEP-Programm KOPIERE und der dort zur Verfügung gestellten Leistung, Muster von Zeichenfolgen zu bestimmen, gelang es, die Formen weitgehend maschinell zu bestimmen.
 

Schlußbemerkungen

Die hebräischen Texte wurden in allen hier beschriebenen Projekten nach der im Tübinger Rechenzentrum üblichen Codierung erfaßt, bei der jedem hebräischen ein deutscher Buchstabe entspricht; die Endbuchstaben werden wie die Umlaute im Deutschen behandelt. Diese Umschrift läßt sich schnell erlernen und ist dann ohne weiteres lesbar. Bei der Verarbeitung wurden die Texte dann wie "normale" Texte behandelt. Erst für den Satz oder für einen gelegentlichen hebräischen Ausdruck wurden die Texte dann innerhalb der Zeile umgedreht, so daß sie von rechts nach links lesbar sind.

Mit einigen Ausnahmen konnten alle Arbeiten mit TUSTEP durchgeführt werden. Da TUSTEP im Laufe der Zeit erweitert wurde, können inzwischen einige eigene FORTRAN-Programme durch TUSTEP-Programme ersetzt werden. Am aufwendigsten von den eigenen FORTRAN-Programmen war das Programm für die Spaltensynopse, und zwar vor allem wegen der verschiedenen Apparate.

Die erwähnten Arbeiten sind inzwischen erschienen:

  • Schäfer, Peter (Hg.): Synopse zur Hekhalot-Literatur. Tübingen: Mohr 1981.
  • Schäfer, Peter (Hg.): Fragmente zur Hekhalot-Literatur. Tübingen: Mohr 1984.
  • Reeg, Gottfried (Hg.): Die Geschichte von den Zehn Märtyrern. Tübingen: Mohr 1985.
  • Schäfer, Peter (Hg.): Konkordanz zur Hekhalot-Literatur. Band 1. Tübingen: Mohr 1986.
  • Schäfer, Peter (Hg.): Konkordanz zur Hekhalot-Literatur. Band 2. Tübingen: Mohr 1988.

 

Hans-Joachim Köhler (SFB 8: Spätmittelalter und Reformation)

Möglichkeiten und Ergebnisse quantitativer Auswertung frühreformatorischer Flugschriften

Summary

A potentially complete (printed) bibliography of all pamphlets in German and Latin, puhlished between 1501 and 1530 within the Holy Roman Empire is in preparation, containing also extensive bibliographical information on the various imprints and details of the content of the individual texts.
This paper discusses their role in the communication process of the early Reformation period in Germany and focusses on questions like
  • How far was the pamphlet-content disseminated through the various strata of early 16th century society?
  • Which were the topics the pamphleteers treated most frequently and how did this pattern change during those thirty years?
  • How can the effectiveness of pamphlet propaganda in effectively changing the attitudes, beliefs, and values of their recipients be assessed?
The method applied is the quantitative analysis of both bibliographical and content information derived from a representative sample of early 16th century pamphlets. The selection of pertinent data, sorting and matching, and the (rather basic) statistics were done by TUSTEP routines.

 

1. Problemstellung

Gegenstand dieser Untersuchung aus dem Tübinger Sonderforschungsbereich 8 "Spätmittelalter und Reformation" ist die Analyse historischer Meinungsbildungsprozesse am Beispiel der frühen Phase der Reformation in Deutschland. Zu den wichtigsten Bedingungen für deren Erfolg zählen das spontane Interesse für die von den Reformatoren aufgeworfenen Fragen, die Bereitschaft zur Annahme der reformatorischen Lehren und die bereitwillige Unterstützung der Reformatoren durch eine alle sozialen Schichten umfassende, rasch wachsende Anhängerschaft. Die primären Werkzeuge für den dazu nötigen tiefgreifenden Meinungs- und Bewußtseinswandel waren vor allem die reformatorische Predigt und die Propaganda durch Flugschriften. Predigt und Flugschriften fungieren in diesem die ganze Gesellschaft involvierenden Kommunikations-Prozeß als zwei in ihrer Wirkungsweise sehr unterschiedliche Kommunikations-Medien: Die Flugschrift wirkt dabei als ein Massenkommunikationsmittel, das seine Botschaft in gedruckter Form tendenziell an die gesamte Öffentlichkeit richtet.

Genauer zu untersuchen sind in diesem Zusammenhang vor allem drei Aspekte der Funktion von Flugschriften als meinungsbeeinflussendes Massenmedium des frühen 16. Jahrhunderts:

  • erstens das Ausmaß der Flugschriftenpublikation, d.h. Publikationsdichte und Reichweite,
  • zweitens die thematischen Schwerpunkte und die Bandbreite der behandelten Themen,
  • und drittens die Frage nach der Wirksamkeit der Flugschriftenpropaganda auf die Einstellungen, Überzeugungen und Wertvorstellungen der Rezipienten.

2. Die Struktur der Flugschriftenpublikation

Anhand einer Auswertung bestimmter bibliographischer Daten (der sog. bibliographischen "fingerprints") darf für das deutsche Sprachgebiet zwischen 1501 und 1530 mit einer Flugschriftenpublikation von bis zu 12.000 Ausgaben gerechnet werden. Als durchschnittliche Auflagenhöhe für diese Art von Drucken am Beginn des 16. Jahrhunderts wird man - bei aller Unsicherheit, die in dieser Frage beim jetzigen Forschungsstand noch festzustellen ist - wohl eine Zahl von etwa 1.000 Exemplaren annehmen dürfen. Zwischen 1501 und 1530 dürften daher im deutschen Sprachgebiet bis zu 12 Millionen Flugschriftenexemplare verbreitet worden sein. Bei einer mutmaßlichen Einwohnerzahl von ca. 12 Millionen entfiel also im Durchschnitt etwa ein Exemplar auf jeden Bewohner des Reiches. Berücksichtigt man nun die Tatsache, daß nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung lesen konnten, so ergibt sich ein Verhältnis von ca. 20 Flugschriftenexemplaren für jeden Lesefähigen.

Ein etwas differenzierteres Bild von der Dynamik der Meinungsbeeinflussung durch Flugschriften läßt sich gewinnen, wenn man anhand einer Zufallsauswahl (von etwas über 3.000 verschiedenen Ausgaben) das unterschiedliche Volumen der Flugschriftenpublikation in den einzelnen Jahren 1501 bis 1530 in einem Diagramm darstellt. Da die zugrundegelegte Auswahl immerhin ca. 25 Prozent der mutmaßlichen Gesamtproduktion umfaßt, darf dabei mit einem sehr hohen Maß an Repräsentativität gerechnet werden.

Die Hauptergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Von 1517 auf 1518 ist ein Produktionsanstieg von 530 Prozent festzustellen.
  • Die Jahre 1520 bis 1526 sind gekennzeichnet von einem Flugschriftenboom mit Spitzenwerten in den Jahren 1523/24.
  • Das Jahr 1520 markiert eine qualitative Veränderung: Die Produktion deutschsprachiger Flugschriften übersteigt die der jetzt rückläufigen lateinischen.
  • Auch nach 1526 bleibt das Produktionsniveau noch etwa doppelt so hoch wie 1518/19 und zwanzigmal so hoch wie 1500 bis 1517.

3. Die thematischen Schwerpunkte der Flugschriftenpublizistik

Aus einem repräsentativen Sample läßt sich eine empirisch abgesicherte Häufigkeitsskala der in den Flugschriften behandelten Themenbereiche feststellen. Dabei stehen Themen aus dem Bereich "Theologie und Kirche" in einem nicht vermuteten Ausmaß und in einer nicht geahnten zeitlichen Kontinuität im Mittelpunkt des Interesses. Es folgen Themen aus den Bereichen "Politik und Recht", "Wissenschaft und Bildung", "Gesellschaft und Kultur" sowie "Wirtschaft" (in dieser Reihenfolge).

Auffällig ist ferner, daß inhaltliche Präferenzen der Flugschriftentexte deutlich mit den einzelnen Phasen unterschiedlich dichter Flugschriftenproduktion korrelieren. Dabei verschwinden zum Beispiel in der Phase des Flugschriftenbooms (1520 bis 1526) die sonst zu beobachtenden thematischen Unterschiede zwischen deutschen und lateinischen Flugschriften.

4. Die Wirksamkeit der Flugschriftenpropaganda

Zeitgenössische Quellenzeugnisse sind für die Behandlung dieses Aspektes noch seltener zu finden als für die Frage nach dem Umfang der Flugschriftenproduktion.

Die primäre historische Leistung des Mediums Flugschriften liegt in der schnellen Anhebung des allgemeinen Informationsniveaus über die brennenden Fragen der Zeit. Die Flugschriften waren es auch, die die weitgehend noch unbestimmten Einstellungen in der Bevölkerung, die sich als Verunsicherung, Unzufriedenheit, Reformverlangen umschreiben lassen, inhaltlich präzisierten und sie dadurch erst zu konsens- und dissensfähigen Gegenständen der öffentlichen Meinung ausprägten.

Die wohl wichtigste Leistung der Flugschriften ist aber die Schaffung einer sowohl umfassend und differenziert wie auch weitgehend gleichförmig informierten Anhängerschaft der führenden Reformatoren. Die Entstehung einer politisch wirksamen reformatorischen Bewegung und die Herausbildung relativ homogener theologischer Richtungen wären ohne die "ideologisch" normierende und dadurch gruppenstabilisierende Funktion der Flugschriften nicht oder zumindest nicht mit so bahnbrechender Energie möglich gewesen.

5. Der EDV-Einsatz im Rahmen der vorliegenden Studie

Das sog. "Fingerprinting"-Verfahren wurde in den frühen 70er Jahren in England entwickelt, um durch eine kurze, aber eindeutige Identifikation der verschiedenen Ausgaben (oder Auflagen) alter Drucke möglichst einfach die Frühdruck-Bestände verschiedener Bibliotheken miteinander vergleichen zu können. Auszugehen ist dabei von der Beobachtung, daß in der Handpressenzeit beim Neusatz eines gedruckten Textes, vor allem bei den Zeilenbrüchen, in aller Regel kleinere oder größere Abweichungen auftreten - selbst dann, wenn Imitationsdruck beabsichtigt war.

Definiert man nun für alle zu vergleichenden Drucke einheitliche "Teststellen" und erfaßt die dort abgedruckten Zeichen, so erhält man eine Art Identifikations-Code, den Fingerprint. Diejenigen Exemplare früher Druckschriften, deren Fingerprint übereinstimmt, repräsentieren mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dieselbe Ausgabe.

Mit TUSTEP-Programmen können diese Daten so manipuliert werden, daß nach einer alphabetischen Sortierung die identischen Fingerprints erkannt werden. Die Dubletten-Einträge können dann markiert und gezählt werden. Zieht man aus den Grunddaten, die man vorher in eine Zufallsreihenfolge gebracht hat, eine Anzahl von Stichproben, deren Mächtigkeit man um jeweils 1.000 Exemplare steigert, so kann man die absolute Zahl und den relativen Anteil der Duplikate innerhalb jedes Samples feststellen. Die gemessenen Werte lassen sich in ein Koordinatensystem eintragen und zu einer Kurve verbinden. Wenn man diese extrapoliert, kann man sodann den Punkt feststellen, bei dem in je 1.000 neuen Datensätzen nur noch Dubletten auftreten. Aus der dort erreichten Grundmenge und der darin enthaltenen Dubletten-Quote ist schließlich die Zahl der (noch erhaltenen) unterschiedlichen Flugschriftenausgaben zu ermitteln.

Alle Arbeiten wurden auf dem Rechner TR 440 durchgeführt. Es wurden ausschließlich TUSTEP-Programme benutzt.
 

Hinweis

Eine ausführliche Fassung dieses Referates wurde im Rahmen des Kolloquiums "Martin Luther: Probleme seiner Zeit", das der Tübinger Sonderforschungsbereich "Spätmittelalter und Reformation" im Oktober 1983 veranstaltet hat, vorgetragen. Die gehaltenen Vorträge sind publiziert in:
Press, Volker (Hg.):
Martin Luther: Probleme seiner Zeit.
Stuttgart: Klett-Cotta 1986.
Darin das genannte Referat:
Köhler, Hans-Joachim:
Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit.
S. 244-281.
Die ungekürzten Texte der verschiedenen Flugschriften-Editionen werden seit 1978 in einer Microfiche-Reihe publiziert (Inter Documentation Company, Zug/Schweiz).

 
(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verf�gung gestellt.)


Zur
Übersicht über die bisherigen Kolloquien
tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 15. Oktober 2002