Protokoll des 32. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 24. November 1984

 

Peter Stahl (SFB 226, Univ. Würzburg)

Der Einsatz der EDV in der Philologie, dargestellt an drei Würzburger Projekten

Summary

This article shows the methodical disposition of the WFG research work and why EDP has to be applied for the publication of medieval texts. On the basis of three projects the author points out various possibilities for analysis and interpretation of the data obtained and the labour-saving effects due to the utilisation of EDP.
 

Von 1973 bis 1984 beschäftigte sich die Würzburger Forschergruppe (WFG) mit der Gebrauchsliteratur des Spätmittelalters, der Literatur einer Epoche also, die sich immer weiter aus der Schriftlichkeit des Lateinischen ausgliederte und die Voraussetzungen für die Kultur der Neuzeit schuf.

Im Jahrbuch für Internationale Germanistik (V, 1973) stellte die WFG ihren überlieferungsgeschichtlichen Forschungsansatz vor, der im wesentlichen drei Schwerpunkte umfaßt:

  • Edition des Textes, der tatsächlich gelesen wurde. Dies kann, muß aber nicht der Autortext sein. Spätere, auf veränderten Verhältnissen beruhende Textausformungen sollen dargestellt werden.
  • Die an dieser Literatur teilhabenden, produktiv und rezeptiv aktiven sozialen Schichten sollen herausgearbeitet werden ("wer hat was für wen geschrieben und warum dabei verändert"?).
  • Sprachentwicklungen sollen dokumentiert werden.
Seit 1976 bediente sich die WFG wegen der großen Textmenge und Informationsfülle der EDV, wobei deren wirkungsvolle Anwendung auf den für den Geisteswissenschaftler besonders gut geeigneten TUSTEP-Programmen beruht. Im folgenden wird kurz anhand von drei Würzburger Projekten, der "Legenda aurea", der "Rechtssumme" und des "Arzneibuch des Ortolf von Baierland" (Forschungsvorhaben im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 226), der EDV-Einsatz aufgezeigt.

1.) Die "Legenda aurea" (hg. von Ulla Williams, 1980) ist das wirkungsmächtigste Prosalegendar des deutschen Sprachraums. Der schmale kritische Apparat der Edition hat einzig die Aufgabe, die Leithandschrift stemmatisch zu stützen. Die durch die Textkollation aufgedeckte, rezeptionsgeschichtliche Sprachvarianz jedoch wird in einem Registerband dargestellt, der 1985 erscheint. Er beinhaltet pro Registereintrag

  • das nach Lexer normalisierte Bezugswort,
  • das kursivierte Lemma mit Kontext und Stellenangabe aus der Edition,
  • den lateinischen Bezug,
  • die handschriftliche Varianz mit Siglenangabe.
Der gespeicherte Registertext ist aber, wegen der darin enthaltenen eindeutigen Sonderzeichen, zugleich Arbeitsgrundlage für weitere Indices mit anderer Aussagekraft. Die TUSTEP-Programme ermöglichen die Umsortierung des Sprachmaterials z.B. gemäß dem lateinischen Bezugswort oder der Handschriftensigle. Wir erhalten dadurch zum einen die gesamte Varianz aller Handschriften in Bezug auf einen lateinischen Eintrag und zum anderen ein Verzeichnis, aus dem hervorgeht, welches Lemma eine Handschrift ändert und welche anderen Handschriften dieselbe Varianz belegen.

2.) Die Edition der "Rechtssumme" (hg. von Georg Steer, erscheint 1985) erforderte aufgrund der textlichen Überlieferung speziell in Würzburg erstellte Satzprogramme, da der Text nur in drei Redaktionen greifbar ist und deshalb in der Edition zeilen- und wortsynoptisch in drei Spalten wiedergegeben werden mußte. Texteinfügungen oder -auslassungen werden dabei durch entsprechende Lücken ausgeglichen.

Inhaltlich liefern alle drei Fassungen im wesentlichen den gleichen Text, wobei sie sich allerdings in Syntax und Wortwahl unterscheiden. In seinem Aufsatz "Vorschläge für ein Valenzwörterbuch des Frühneuhochdeutschen" (in: Methodenband der WFG, hg. von Kurt Ruh, erscheint 1985) zeigt Norbert Richard Wolf exemplarisch, wie anhand des "Rechtssumme"-Textes eine Valenzanalyse durchgeführt werden kann. Die von der Valenzforschung geforderten Tests und die unabdingbare Sprecherkompetenz ergeben sich dabei aus dem spätmittelalterlichen Text selbst.

3.) In dem im Anschluß an die WFG an den Universitäten Würzburg und Eichstätt eingerichteten Sonderforschungsbereich "Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter" befaßt sich eines der neun Teilprojekte (Projektleiter: Gundolf Keil) mit dem wirkungsmächtigen "Arzneibuch des Ortolf von Baierland" (Mitte 14. Jh.). Grundlage für eine umfassende Darstellung der Überlieferungsgeschichte ist eine qualitative Textkollation der Handschriften und eine quantitative Korpuskollation. Zur Arbeitserleichterung wurde die Leithandschrift in den Rechner eingegeben und zu Kollationsheften und einem KWIC-Index weiterverarbeitet. Darüberhinaus wird eine maschinelle Auswertung der Korpuskollation sowie anderer handschriftlicher Daten die Ergebnisse der Textkollation stützen oder modifizieren.

Literaturhinweise

Die els�ssische "Legenda aurea". Bd. 1: Das Normalcorpus.- Hrsg. von Ulla Williams. T�bingen: Niemeyer 1980.
Bd. 3: Ulla Williams: Die lexikalische �berlieferungsvarianz, Register, Indices.- T�bingen: Niemeyer 1990

Die "Rechtssumme" Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der "Summa confessorum" des Johannes von Freiburg.- Bd. 1-4. Hrsg. von Georg Steer. T�bingen: Niemeyer 1987

Wolf, Norbert Richard: Vorschl�ge f�r ein Valenzw�rterbuch des Fr�hneuhochdeutschen ... In: �berlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beit�ge der W�rzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung.- Hrsg. von Kurt Ruh. T�bingen: Niemeyer 1985, S. 201-220
 

Thomas Stadler (SFB 226, Univ. Würzburg)

PC- und Großrechnereinsatz im SFB 226

Summary

Extensive hardware and excellent software (TUSTEP) enable and support the research work in Würzburg. The author shows the fields of possible application for the mainframe and personal computers, as well as matrix-printers.
 

Sowohl die Würzburger Forschergruppe (1973-1984) als auch der Sonderforschungsbereich 226 "Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter" an den Universitäten Würzburg und Eichstätt (seit 1984) bezogen und beziehen die EDV als wichtiges Arbeitsinstrument in die Forschungsarbeit ein.

Der Stand der technischen Ausstattung (Sichtgeräte, Drucker, Personal Computer und Rechnerberechtigungen) darf als hervorragend bezeichnet werden; kein Projekt mußte bislang an technischen Einschränkungen scheitern. An Großrechnersoftware wird fast ausschließlich das Tübinger Programmpaket TUSTEP eingesetzt; der Anteil eigener Programme, die allerdings ausgiebig auf die TUSTEP-Unterprogramme zugreifen, ist relativ hoch.

Großrechner und Personal Computer (PC)

PC's und besonders die Programme, die auf dem Markt angeboten werden, sind für den Einsatz in der philologischen Forschung, in der stets mit großen Datenmengen und relativ hohen Rechenzeiten gearbeitet werden muß, fast durchgängig ungeeignet; nur in wenigen Bereichen setzen wir sie - hier aber durchaus mit Gewinn - ein, wobei bei uns die erste und notwendige Bedingung, nämlich die, daß der Datentransport von und zum Großrechner ohne Probleme möglich ist, erfüllt ist. Es sind dies:

  • großrechnerunabhängige Texterfassung (die Eichstätter SFB-Abteilung ist mangels Rechenzentrum auf den PC angewiesen) und Textausgabe (Matrixdrucker)
  • intelligente Texterfassung auszeichnungsmäßig komplexer, jedoch streng formal strukturierter Texte (z.B. Variantenglossar)
  • schnelle konsistente Textauszeichnung (vgl. unten: "Rechtssumme" )
  • Verwaltung und Büroangelegenheiten.
Den zuerst genannten Anwendungen ist gemeinsam, daß die Menge der nötigen Lese-, Schreib- und Rechenoperationen klein ist gegenüber der Zahl der Interaktionsvorgänge im Dialog zwischen Bediener und Rechner. In allen solchen Frage-Antwort-Systemen kann der PC seine Vorteile gegenüber dem großen Rechner ausspielen, denn
  • er reagiert schneller: zeichen- (tasten-)weiser Verkehr mit der Zentraleinheit ist möglich und
  • er kann auf Tastendruck und je nach Kontext verschiedene und komplexe Aktionen sofort durchführen und unverzüglich auf Fehlbedienungen aufmerksam machen.

Der PC und die "Rechtssumme" Bruder Bertholds

Die Vorarbeiten für den zeilen- und wortsynoptischen Satz der "Rechtssumme" waren nur über die Nutzung dieser Vorzüge zu bewältigen: Der Text ist in drei Fassungen tradiert, die sich soweit ähnlich sind, daß in weiten Teilen wortweise Synchronizität besteht, die allerdings automatisch nicht auffindbar ist. Die Textentsprechungen mußten manuell möglichst präzis markiert werden. Ein PC-Programm (P. Ruff, Rechenzentrum der Universität Würzburg) erlaubte es, diesen Arbeitsschritt für die 2000 Seiten der Edition in 150 Stunden durchzuführen, während derer rund 100.000 Aufsatzpunkte markiert wurden.

Die drei Fassungstexte wurden dazu - nach dem Transport aus dem Großrechner auf die Diskette - vom Programm in drei Puffer eingelesen, in die der Bediener via Bildschirm hineinsehen kann. Seine Aufgabe ist es, Textstellen, die später auf gleicher Zeile und Position stehen sollen, auszuzeichnen. Alle nötigen Aktionen (ein-, zwei- und dreifache Textbewegung vor- und rückwärts, je nach Varianz verschiedene Textmarkierungen) sind durch Ein-Tastenbefehle aufrufbar. Die Resultate sind im Rahmen der bescheidenen Auszeichnungssyntax konsistent, da es nur eine Möglichkeit gibt zu markieren oder falsche Markierungen wieder zu tilgen und dies immer nur gleichzeitig in den drei Fassungen geschieht.

Die Einrichtung der drei Texte, die nun sozusagen voneinander wissen, für den Satz (Zeilenumbruch, Silbentrennung, Apparatesatz und Seitenumbruch - alles in gegenseitiger Abhängigkeit) erledigen nach dem Rücktransport der Daten aufwendige TR440-Programme.

Druckertechnologie

Die finanziell und programmiertechnisch anspruchslose Installierung dreier guter Matrixdrucker (NDK S7700) sorgte für einen erheblichen Fortschritt in der Visualisierung der stets von Sonderzeichen (= Ersatzdarstellungen) und Satzsteuerzeichen überfüllten Texte. Unsere Drucker lassen sich zur Gänze auf dem Datenweg steuern, verfügen über verschiedene Schriften (drei Schriftarten, mathematische Symbole, nationale Sonderzeichen, "Schnellschrift", kleine über- oder untergeschriebene Zeichen), die auf vier Arten ausgezeichnet werden können (u.a. Schrägstellung, Untersteichung, Fettdruck). Sie erlauben zudem und ebenfalls über die Datenleitung die Definition von beliebigen Zeichen in einer 16 x 24-Matrix. Wir können nun jeden gewünschten Zeichensatz in verschiedenster Form darstellen, was zwischenzeitlich dazu geführt hat, daß kaum mehr ein Druckauftrag an den Schnelldrucker ergeht, es sei denn, es handle sich um sehr umfangreiche Listen, für die der Matrixdrucker zu langsam ist (ca. 150 Seiten pro Stunde). Über das TUSTEP-Programm FORMATIERE und ein eigenes Programm erreicht unser Papieroutput eine Qualität, die sehr nahe am Original oder dem intendierten Produkt - im allgemeinen dem gesetzten Buch - liegt.

 
(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verf�gung gestellt.)


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Übersicht über die bisherigen Kolloquien
tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 25. Oktober 2002