Protokoll des 32. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 24. November 1984
Von 1973 bis 1984 beschäftigte sich die Würzburger
Forschergruppe (WFG) mit der Gebrauchsliteratur des
Spätmittelalters, der Literatur einer Epoche also,
die sich immer weiter aus der Schriftlichkeit des
Lateinischen ausgliederte und die Voraussetzungen für die
Kultur der Neuzeit schuf.
Im Jahrbuch für Internationale
Germanistik (V, 1973) stellte die WFG ihren
überlieferungsgeschichtlichen Forschungsansatz vor, der
im wesentlichen drei Schwerpunkte umfaßt:
1.) Die "Legenda aurea" (hg. von Ulla Williams, 1980) ist das
wirkungsmächtigste Prosalegendar des deutschen
Sprachraums. Der schmale kritische Apparat der Edition hat
einzig die Aufgabe, die Leithandschrift stemmatisch zu
stützen. Die durch die Textkollation aufgedeckte,
rezeptionsgeschichtliche Sprachvarianz jedoch wird in
einem Registerband dargestellt, der 1985 erscheint. Er
beinhaltet pro Registereintrag
2.) Die Edition der "Rechtssumme" (hg. von Georg Steer,
erscheint 1985) erforderte aufgrund der textlichen
Überlieferung speziell in Würzburg erstellte
Satzprogramme, da der Text nur in drei Redaktionen
greifbar ist und deshalb in der Edition zeilen- und
wortsynoptisch in drei Spalten wiedergegeben werden mußte.
Texteinfügungen oder -auslassungen werden dabei durch
entsprechende Lücken ausgeglichen.
Inhaltlich liefern alle drei Fassungen im wesentlichen den
gleichen Text, wobei sie sich allerdings in Syntax und
Wortwahl unterscheiden. In seinem Aufsatz "Vorschläge für
ein Valenzwörterbuch des Frühneuhochdeutschen" (in:
Methodenband der WFG, hg. von Kurt Ruh, erscheint 1985)
zeigt Norbert Richard Wolf exemplarisch, wie anhand des
"Rechtssumme"-Textes eine Valenzanalyse durchgeführt
werden kann. Die von der Valenzforschung geforderten
Tests und die unabdingbare Sprecherkompetenz ergeben sich
dabei aus dem spätmittelalterlichen Text selbst.
3.) In dem im Anschluß an die WFG an den Universitäten
Würzburg und Eichstätt eingerichteten
Sonderforschungsbereich "Wissensorganisierende und
wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter" befaßt sich
eines der neun Teilprojekte (Projektleiter: Gundolf Keil) mit
dem wirkungsmächtigen "Arzneibuch des Ortolf von
Baierland" (Mitte 14. Jh.). Grundlage für eine
umfassende Darstellung der Überlieferungsgeschichte ist
eine qualitative Textkollation der Handschriften und
eine quantitative Korpuskollation. Zur
Arbeitserleichterung wurde die Leithandschrift in den
Rechner eingegeben und zu Kollationsheften und einem
KWIC-Index weiterverarbeitet.
Darüberhinaus wird eine maschinelle
Auswertung der Korpuskollation sowie anderer
handschriftlicher Daten die Ergebnisse der Textkollation
stützen oder modifizieren.
Die "Rechtssumme" Bruder Bertholds. Eine deutsche
abecedarische Bearbeitung der "Summa confessorum" des Johannes
von Freiburg.- Bd. 1-4. Hrsg. von Georg Steer. T�bingen:
Niemeyer 1987
Wolf, Norbert Richard: Vorschl�ge f�r ein Valenzw�rterbuch
des Fr�hneuhochdeutschen ... In:
�berlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beit�ge der
W�rzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung.-
Hrsg. von Kurt Ruh. T�bingen: Niemeyer 1985, S. 201-220
Sowohl die Würzburger Forschergruppe (1973-1984) als
auch der Sonderforschungsbereich 226
"Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur
im Mittelalter" an den Universitäten Würzburg und
Eichstätt (seit 1984) bezogen und beziehen die EDV als
wichtiges Arbeitsinstrument in die Forschungsarbeit ein.
Der Stand der technischen Ausstattung (Sichtgeräte,
Drucker, Personal Computer und Rechnerberechtigungen)
darf als hervorragend bezeichnet werden; kein Projekt
mußte bislang an technischen Einschränkungen
scheitern. An Großrechnersoftware wird fast
ausschließlich das Tübinger Programmpaket TUSTEP
eingesetzt; der Anteil eigener Programme, die
allerdings ausgiebig auf die TUSTEP-Unterprogramme
zugreifen, ist relativ hoch.
PC's und besonders die Programme, die auf dem Markt angeboten
werden, sind für den Einsatz in der philologischen
Forschung, in der stets mit großen Datenmengen und
relativ hohen Rechenzeiten gearbeitet werden muß, fast
durchgängig ungeeignet; nur in wenigen Bereichen setzen
wir sie - hier aber durchaus mit Gewinn - ein, wobei bei
uns die erste und notwendige Bedingung, nämlich die, daß
der Datentransport von und zum Großrechner ohne Probleme
möglich ist, erfüllt ist. Es sind dies:
Die Vorarbeiten für den zeilen- und wortsynoptischen Satz
der "Rechtssumme" waren nur über die Nutzung dieser
Vorzüge zu bewältigen: Der Text ist in drei Fassungen
tradiert, die sich soweit ähnlich sind, daß in weiten
Teilen wortweise Synchronizität besteht, die allerdings
automatisch nicht auffindbar ist. Die Textentsprechungen
mußten manuell möglichst präzis markiert werden. Ein
PC-Programm (P. Ruff, Rechenzentrum der Universität
Würzburg) erlaubte es, diesen Arbeitsschritt für die
2000 Seiten der Edition in 150 Stunden durchzuführen,
während derer rund 100.000 Aufsatzpunkte markiert wurden.
Die drei Fassungstexte wurden dazu - nach dem Transport
aus dem Großrechner auf die Diskette - vom Programm
in drei Puffer eingelesen, in die der Bediener via
Bildschirm hineinsehen kann. Seine Aufgabe ist es,
Textstellen, die später auf gleicher Zeile und Position
stehen sollen, auszuzeichnen. Alle nötigen Aktionen (ein-,
zwei- und dreifache Textbewegung vor- und rückwärts, je
nach Varianz verschiedene Textmarkierungen) sind durch
Ein-Tastenbefehle aufrufbar. Die Resultate sind im Rahmen
der bescheidenen Auszeichnungssyntax konsistent, da es nur
eine Möglichkeit gibt zu markieren oder falsche
Markierungen wieder zu tilgen und dies immer nur
gleichzeitig in den drei Fassungen geschieht.
Die Einrichtung der drei Texte, die nun sozusagen
voneinander wissen, für den Satz (Zeilenumbruch,
Silbentrennung, Apparatesatz und Seitenumbruch - alles in
gegenseitiger Abhängigkeit) erledigen nach dem
Rücktransport der Daten aufwendige TR440-Programme.
Die finanziell und programmiertechnisch anspruchslose
Installierung dreier guter Matrixdrucker (NDK S7700)
sorgte für einen erheblichen Fortschritt in der
Visualisierung der stets von Sonderzeichen
(= Ersatzdarstellungen) und Satzsteuerzeichen überfüllten
Texte. Unsere Drucker lassen sich zur Gänze auf dem
Datenweg steuern, verfügen über verschiedene Schriften
(drei Schriftarten, mathematische Symbole, nationale
Sonderzeichen, "Schnellschrift", kleine über- oder
untergeschriebene Zeichen), die auf vier Arten
ausgezeichnet werden können (u.a. Schrägstellung,
Untersteichung, Fettdruck). Sie erlauben zudem und
ebenfalls über die Datenleitung die Definition von
beliebigen Zeichen in einer 16 x 24-Matrix. Wir können nun
jeden gewünschten Zeichensatz in verschiedenster Form
darstellen, was zwischenzeitlich dazu geführt hat, daß
kaum mehr ein Druckauftrag an den Schnelldrucker ergeht,
es sei denn, es handle sich um sehr umfangreiche Listen,
für die der Matrixdrucker zu langsam ist (ca. 150 Seiten
pro Stunde). Über das TUSTEP-Programm FORMATIERE und ein
eigenes Programm erreicht unser Papieroutput eine
Qualität, die sehr nahe am Original oder dem
intendierten Produkt - im allgemeinen dem gesetzten Buch -
liegt.
Peter Stahl (SFB 226, Univ. Würzburg)
Der Einsatz der EDV in der Philologie, dargestellt an drei Würzburger Projekten
Summary
This article shows the methodical disposition of the WFG
research work and why EDP has to be applied for the
publication of medieval texts. On the basis of three
projects the author points out various possibilities for
analysis and interpretation of the data obtained and the
labour-saving effects due to the utilisation of EDP.
Seit 1976 bediente sich die WFG wegen der großen Textmenge und
Informationsfülle der EDV, wobei deren wirkungsvolle
Anwendung auf den für den Geisteswissenschaftler besonders
gut geeigneten TUSTEP-Programmen beruht. Im folgenden
wird kurz anhand von drei Würzburger Projekten, der
"Legenda aurea", der "Rechtssumme" und des "Arzneibuch des
Ortolf von Baierland" (Forschungsvorhaben im Rahmen des
Sonderforschungsbereiches 226), der EDV-Einsatz aufgezeigt.
Der gespeicherte Registertext ist aber, wegen der darin
enthaltenen eindeutigen Sonderzeichen, zugleich
Arbeitsgrundlage für weitere Indices mit anderer
Aussagekraft. Die TUSTEP-Programme ermöglichen die
Umsortierung des Sprachmaterials z.B. gemäß dem
lateinischen Bezugswort oder der Handschriftensigle. Wir
erhalten dadurch zum einen die gesamte Varianz aller
Handschriften in Bezug auf einen lateinischen Eintrag und
zum anderen ein Verzeichnis, aus dem hervorgeht, welches
Lemma eine Handschrift ändert und welche anderen
Handschriften dieselbe Varianz belegen.
Literaturhinweise
Die els�ssische "Legenda aurea". Bd. 1: Das Normalcorpus.-
Hrsg. von Ulla Williams. T�bingen: Niemeyer 1980.
Bd. 3: Ulla Williams: Die lexikalische
�berlieferungsvarianz, Register, Indices.- T�bingen: Niemeyer
1990
Thomas Stadler (SFB 226, Univ. Würzburg)
PC- und Großrechnereinsatz im SFB 226
Summary
Extensive hardware and excellent software (TUSTEP)
enable and support the research work in Würzburg.
The author shows the fields of possible application for
the mainframe and personal computers, as well as matrix-printers.
Großrechner und Personal Computer (PC)
Den zuerst genannten Anwendungen ist gemeinsam, daß die Menge der nötigen
Lese-, Schreib- und Rechenoperationen klein ist gegenüber
der Zahl der Interaktionsvorgänge im Dialog zwischen
Bediener und Rechner. In allen solchen
Frage-Antwort-Systemen kann der PC seine Vorteile
gegenüber dem großen Rechner ausspielen, denn
Der PC und die "Rechtssumme" Bruder Bertholds
Druckertechnologie
(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verf�gung gestellt.)
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Übersicht über die bisherigen Kolloquien
tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 25. Oktober 2002