Protokoll des 45. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 17. Februar 1989

 

Allgemeine Information

Kyrillisch in TUSTEP
Seit dem Frühjahr 1989 können mit TUSTEP auch kyrillische Texte gedruckt werden.
 

Norbert Richard Wolf (Institut für Deutsche Philologie, Würzburg)

Computergestützte sprachwissenschaftliche Untersuchungen an frühneuhochdeutschen Texten

1. Textkorpus

Jede sprachwissenschaftliche Untersuchung bedarf eines Textkorpus, dies sowohl bei gegenwartssprachlichen Analysen als auch und viel mehr bei Beschreibungen historischer Sprachstufen, weil hierfür wohl jede Sprecherkompetenz fehlt. Mit Hilfe eines Textkorpus wird es möglich, daß sich der Sprachwissenschaftler eine Ersatzkompetenz schafft. Für diese Zwecke empfiehlt es sich überdies, auf umfangreiche Texte zurückzugreifen, die - zumindest teilweise - synonyme Formulierungen enthalten, die wiederum ein Ersatz für Analyseoperationen ("Test", "Proben") sein können.

Dazu kommt, daß wir es vor allem im Mittelalter mit unfesten Texten zu tun haben. Je nach Entstehungsort, -raum, -zeit und -situation wird ein Text bei neuerlichem Gebrauch inhaltlich oder/und sprachlich aktualisiert, so daß sich heute einerseits gar keine ursprüngliche Fassung mehr rekonstruieren läßt; andererseits würde dieses Vorgehen den tatsächlichen Befund verfälschen, weil die Unfestigkeit der Texte ihre Historizität, somit ihr tatsächliches "Leben" ausmacht. Derart dynamische Texte benötigen "dynamische Editionen", wobei sich das Adjektiv "dynamisch" in dreifachem Sinne versteht:

  1. Eine Edition sollte auch die Textgeschichte weitestgehend nachvollziehen lassen. Die jüngst erschienenen Ausgaben der sog. "Rechtssumme" Bruder Bertholds (4 Bände, Tübingen 1987) und des "Vocabularius Ex quo" (die ersten drei Bände, Tübingen 1988) sind Versuche, gerade auch die Textdynamik zu dokumentieren.
  2. Historiker z.B. stellen an die Edition mittelalterlicher Texte andere Forderungen als Germanisten, insbesondere Sprachwissenschaftler. Eine maschinenlesbare Edition mit entsprechenden Kodierungen und Varianten könnte verschiedenen Bedürfnissen entgegenkommen.
  3. Eine Edition sollte auch in dem Sinne dynamisch sein, daß sie als Grundlage für weitere Arbeiten dient, bei denen der Text nach unterschiedlichen Kriterien (automatisch) geordnet und durchsucht werden kann.
Es liegt nahe, daß diese Forderungen fast nur noch mit EDV-Hilfe erfüllt werden können. Editionen, die am Computer bzw. mit dessen Hilfe erstellt werden, sind in diesem dreifachen Sinne dynamisch. (Und das Programmpaket TUSTEP erlaubt bzw. ermöglicht alle wesentlichen Schritte vom Edieren bis zum Durchforsten sozusagen "unter einem Dach".)

2. Die Würzburger Wortbildungsuntersuchungen

Das Teilprojekt 4 des Sonderforschungsbereichs 226 "Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter" (Würzburg/Eichstätt) untersucht derzeit auf der Basis maschinenlesbarer Editionen die Wortbildung des Substantivs im Frühneuhochdeutschen. Es hat sich dabei erwiesen, daß das Textkorpus nur umfangreiche Ganztexte enthalten darf, weil sonst das Bild sehr stark verfälscht würde. In der "Summa legum" des Dr. Raymundus von Wiener Neustadt, einem Rechtstext aus dem Jahre 1345, z.B. wären pro Seite zwei Belege für Abteilungen mit dem Suffix ung zu erwarten, doch die tatsächliche Verteilung sieht, wie die Statistik zeigt, ganz anders aus:

1145 Belege, S. 123-686 = 564 Seiten, 2 Belege je Seite

von bisSeitenzahlBelege erwartetDifferenz
123 17250   64102 -38
173 22250   71102 -31
223 27250   72102 -30
273 32250 102102    0
323 37250   68102 -34
373 42250 124102   22
423 47250 111102    9
473 52250 169102   67
523 57250 122102   20
573 62250   95102   -7
623 67250   94102   -8
637 68650 135102   33

Alleine die Tatsache, daß die zu untersuchenden Korpustexte (zusammen sieben Texte mit insgesamt 1,07 Millionen Wörtern) maschinenlesbar vorhanden sind, macht sie in relativ kurzer Zeit bearbeitbar. Vor- und rückläufige Wortformenregister helfen beim Auffinden der Prä- und Suffixe, eine Datenbank ermöglicht das Ordnen und systematische Beschreiben der vorgefundenen Strukturen.

Es leuchtet ein, daß solche Untersuchungen nur noch mit EDV-Unterstützung möglich sind. Ich sage bewußt: mit EDV-Unterstützung. Die entscheidenden Fragen muß immer noch der Sprachwissenschaftler stellen und aufgrund des Befundes beantworten. In diesem Sinne ist der Computer nicht mehr und nicht weniger als ein wohlorganisierter Zettelkasten - des Philologen liebstes Kind -, der es aber erlaubt, überaus große Textmengen in überschaubarer Zeit zu bearbeiten. Die EDV gestattet eben breit angelegte Analysen, die manuell nicht mehr zu bewältigen wären. Mit anderen Worten: Wir können jetzt Fragen stellen, die wir bislang aus arbeitstechnischen Gründen nicht stellen konnten. Unser Bild von den früheren Sprachstufen wird sich dadurch um einiges ändern, vor allem, es wird dem Gegenstand angemessener werden.
 

Werner Wegstein (Institut für Deutsche Philologie, Würzburg)

Das Würzburger Aufbaustudium "Linguistische Informations- und Textverarbeitung"

Seit dem Wintersemester 1985/86 wird an der Philosophischen Fakultät II der Universität Würzburg Absolventen philologischer Fächer die Möglichkeit geboten, sich im Aufbaustudiengang "Linguistische Informations- und Textverarbeitung" mit Problemen der Verarbeitung von Sprache(n) auf Großrechneranlagen und Mikrorechnern vertraut zu machen. Dahinter versteckt sich keine kaschierte Umschulung in Richtung Datenverarbeitung, gar noch mit dem Hintergedanken, es wäre dafür eigentlich am besten, die bisher studierten Fächer rasch zu vergessen. Im Gegenteil: durch das Aufbaustudium soll den Philologen die Fähigkeit vermittelt werden, auf ihrem Fachgebiet die Werkzeuge der elektronischen Datenverarbeitung in der Informations- und Textverarbeitung optimal einsetzen zu können. Diese zusätzliche Qualifikation soll es ihnen erleichtern, sich mit ihren Fachkenntnissen als Philologen neue Arbeitsfelder zu erschließen in Industrie und Verwaltung, im Bereich von Dokumentation, Medien, Schulung und Ausbildung, aber auch in traditionell philologischen Gebieten wie Verlagswesen, Archiven, Bibliotheken.

Vorgeschichte

Anstoß zur Einrichtung eines Aufbaustudiums mit dieser Thematik war in Würzburg die philologische Forschung: Vor gut zwölf Jahren wurde am Institut für deutsche Philologie, in der 1974 gegründeten Forschergruppe "Prosa des deutschen Mittelalters", damit begonnen, EDV-gestützte Verfahren zur Edition mittelalterlicher Texte einzusetzen. Die Programme hierfür, das Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen TUSTEP, stellte dankenswerterweise die Abteilung für Literarische und Dokumentarische Datenverarbeitung der Universität Tübingen, namentlich Professor Dr. Wilhelm Ott, zur Verfügung. Auf der Hardware-Seite half das Würzburger Universitätsrechenzentrum gerade in den schwierigen Anfängen den sogenannten "Nichtnumerikern", elektronischen Habenichtsen mit ungewöhnlichen Anforderungen und Vorstellungen.

Das wachsende Knowhow im Umgang mit der Technik, Erfahrungen mit der Schulung von wissenschaftlichen Mitarbeitern und studentischen Hilfskräften im Bereich der Forschung, Seminare über die Anwendung von EDV-Verfahren in der Philologie, dies alles regte die Konzeption eines Aufbaustudiengangs an. Betriebsbesichtigungen und Gespräche mit EDV-Praktikern in den Betrieben vermittelten zusätzlich praxisbezogene Vorstellungen davon, was die Chancen eines Philologen auf diesem Arbeitsmarkt verbessern könnte. Schließlich konnte 1985 der Aufbaustudiengang zunächst probeweise für zwei Jahre, seit dem Wintersemester 1987/88 auf Dauer installiert werden.

Studienverlauf

Das Ausbildungsprogramm ist sehr bewußt auf zwei Semester komprimiert: die oft beklagte lange Studiendauer der Philologen soll nicht mehr als unbedingt nötig ausgedehnt werden, stellt doch für Wirtschaftsunternehmen das Lebensalter von 30 Jahren eine Art "magische Grenze" für die Einstellung von Berufsanfängern dar, die es möglichst weit zu unterbieten gilt. Andererseits sind aus der Sicht der Hochschulabsolventen zwei weitere Semester zeitlich das gerade noch akzeptable Maximum, für das man sich nach dem Examen noch einmal zu engagieren bereit ist und das man sich auch finanziell noch zutraut.

Voraussetzung für die Einschreibung ist ein erster Hochschulabschluß in einem philologischen Fach (möglichst mit sprachwissenschaftlichem Schwerpunkt).

Zur Abschlußprüfung wird zugelassen, wer alle erforderlichen Lehrveranstaltungen erfolgreich absolviert, d.h. die einschlägigen Klausuren bestanden bzw. in den Praktika die notwendige Anzahl von Übungsaufgaben richtig gelöst hat. Der erfolgreiche Abschluß des Aufbaustudiums wird durch ein Zeugnis bestätigt, aus dem die besuchten Lehrveranstaltungen und die Note der vierzigminütigen, mündlichen Abschlußprüfung hervorgehen.

Studieninhalte

Die inhaltlichen Schwerpunkte des Aufbaustudiums liegen zu gleichen Teilen auf dem Umgang mit Großrechnern und mit Personal-Computern. Dabei geht es letztendlich nicht darum, die Bedienung von irgendwelchen Betriebssystemen, Textverarbeitungs- oder Datenbankprogrammen zu erlernen und einzuüben, wenngleich es natürlich schon notwendig ist, auch hierin über den Stand der Technik Bescheid zu wissen. Vielmehr geht es um Anwendungskonzeptionen und um Probleme, zu deren Lösung die philologische bzw. sprachwissenschaftliche Kompetenz der Teilnehmer in unterschiedlicher Weise - reflektierend, vermittelnd oder produktiv - eingebracht werden soll. Die Studierenden sollen dabei auch lernen, kommerzielle Software hinsichtlich der Eignung für konkrete Zwecke zu bewerten, auszuwählen, für die jeweilige System- und Benutzerumgebung anzupassen und - falls notwendig - weiterzuentwickeln. In diesen Rahmen gehören je zwei Seminare für den Bereich Großrechner und PC jeweils mit Praktikum, ein Seminar über Dokumentation und ein Seminar zur Textverarbeitungsprogrammierung, ferner als Wahlveranstaltung ein sehr elementarer Hardware-Kurs.

Auf die Kooperation mit anderen Fächern wird besonderes Gewicht gelegt. Die jeweils zuständigen Institute der Universität vermitteln Kenntnisse in Programmiersprachen bzw. Programmiertechnik (zwei Seminare), betriebswirtschaftliche Grundbegriffe (ein Seminar) und EDV-Englisch (ein Seminar). Mit dem Institut für Informatik ist zudem vereinbart, daß Teilnehmer des Aufbaustudiums an für sie besonders geeigneten Veranstaltungen teilnehmen können.

Insgesamt kommt so ein Wochenpensum allein an Pflichtveranstaltungen von 28 Stunden pro Semester zusammen, das durch ein mindestens vierwöchiges Betriebspraktikum in den Semesterferien ergänzt wird.

Die Belastung für die Teilnehmer am Aufbaustudium ist damit erheblich. Freilich sind das keine Studienanfänger mehr, sondern Absolventen, noch dazu hoch motivierte, denen dieses Pensum, wie die Praxis zeigt, zuzumuten ist.

Erfahrungen

Die Erfahrungen nach drei Prüfungsjahrgängen mit insgesamt 42 Absolventen sind außerordentlich ermutigend. Nach etwa sechs Wochen sind diejenigen, die sich mit dem Aufbaustudium übernommen haben oder denen der Umgang mit der Datenverarbeitung einfach nicht liegt, wieder ausgeschieden. Wer darüberhinaus bleibt, arbeitet sich mit philologischer Akribie und großem, durchaus kritischem Engagement bis zur Abschlußprüfung durch.

Das Spektrum von Haupt- und Nebenfächern der Teilnehmer umfaßt praktisch das gesamte Studienangebot der Philosophischen Fakultäten von Sinologie, Latein, Archäologie über Germanistik, Anglistik, Romanistik bis zu Psychologie, Pädagogik und Musikwissenschaft. Als Studienabschluß überwog deutlich der Magistergrad (20) gegenüber Staatsexamen (16), Promotion (1) und sonstigen Abschlüssen (5).

Ermutigend für das Konzept des Aufbaustudiums erscheint uns auch der Erfolg der Absolventen bei der Stellensuche. In Zahlen: Von 30 Kursteilnehmern, deren Verbleib wir kennen, haben acht einen Arbeitsplatz in Industrie und Verwaltung außerhalb traditionell philologischer Bereiche gefunden, sechs sind im EDV-Sektor (Hersteller, Vertrieb, Schulung) tätig, je zwei in Verlagen bzw. privaten Fortbildungseinrichtungen, sechs arbeiten in verschiedenen Forschungsprojekten an Universitäten, fünf streben nach dem Studienabschluß - z.T. mit Stipendien - noch die Promotion an, eine Absolventin ist anderweitig beschäftigt.

Wie sich die Aufnahme der Absolventen auf dem Stellenmarkt in der Zukunft entwickelt, bleibt abzuwarten. Als positives Indiz erscheint uns zumindest die langsam wachsende Bereitschaft von Betrieben, Praktikumsplätze auch für Philologen aus dem Aufbaustudium zur Verfügung zu stellen.

 
(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verf�gung gestellt.)


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Übersicht über die bisherigen Kolloquien
tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 27. August 2003