Aus dem Protokoll des 61. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 2. Juli 1994

 

Gerhard Schmitz (München)

Edition und Erschließung eines frühmittelalterlichen Gesetzbuches:
Die Kapitulariensammlung des Abtes Ansegis

Kapitularien sind in Kapitel gegliederte legislative Texte höchst verschiedener Art, die von karolingischen Herrschern - insbesondere von Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen - erlassen wurden. Thematisch decken sie ein weites Spektrum ab: Teils werden durch sie die einzelnen Volksrechte ergänzt oder verändert, teils werden wichtige politische Dinge geregelt, teils aber auch ganz konkrete Einzelfälle entschieden. Sie beziehen sich gleichermaßen auf weltliche und kirchliche Angelegenheiten, in ihnen spiegeln sich soziale und wirtschaftliche Verhältnisse. Mit dieser Spannweite bilden sie eine der wichtigsten Quellengruppen für die karolingische Zeit: keine andere verrät mehr über die konkrete Administration des karolingischen Reiches, über die Verfassungswirklichkeit (im weitesten Sinne verstanden) dieser Zeit und über die Versuche der Karolinger, ihren Willen bekanntzugeben und durchzusetzen.

Anders als Urkunden haben Kapitularien keine bestimmte Form: Es kann sich um durchformulierte Stücke handeln, die in mancher Hinsicht den Urkunden nahekommen, es kann sich aber auch - und dies ist die Mehrzahl der Fälle - um mehr oder weniger formlose Erlasse handeln, bis hin zu stichwortartig formulierten Aide-mémoires, die den königlichen Amtsrägern als Erinnerungsstütze bei ihren Reisen in bzw. durch ihre Amtsbezirke dienten.

Über die Verbreitung der Kapitularien ist nicht allzu viel bekannt: Vor allem zur Zeit Ludwigs gibt es zwar vereinzelt Vorschriften über eine geordnete Vervielfältigung und Bekanntgabe, aber es ist schwer zu sagen, ob diese Anordnungen eingehalten wurden. Im Normalfall wird es so gewesen sein, daß Bischöfe, Äbte und weltliche Amtsträger selbst Abschriften eines Kapitulars nehmen mußten, schon weil die Schreibkapazität der königlichen Kanzlei kaum ausgereicht haben dürfte, innerhalb kurzer Zeit eine genügende Anzahl von Einzelexemplaren herzustellen. Noch weniger wissen wir über die Archivierung der erlassenen Gesetze und Vorschriften am karolingischen Hof. Man muß annehmen, daß dort wenigstens von den wichtigeren Kapitularien authentische Fassungen aufbewahrt wurden, aber ganz sicher geschah dies nicht in einer geordneten Form: Ein offizielles, "amtliches" Gesetzbuch hat es - anders etwa als bei den Langobarden - im fränkischen Reich der Karolinger nicht gegeben.

In diese Lücke stieß 827 der Abt Ansegis von St. Wandrille: Er hat alle Kapitularien, derer er habhaft werden konnte, gesammelt und in vier Büchern und drei Appendices zusammengefaßt. Das Material versuchte er nach kirchlichen und weltlichen Gesichtspunkten zu ordnen: In den Büchern I und II sollten die kirchlichen Gesetze Karls bzw. Ludwigs, in den Büchern III und IV die weltlichen Verordnungen zu finden sein. Tatsächlich hat er dieses Gliederungsprinzip mehrfach durchbrochen, so daß von einer konsequenten Durchführung seines Plans nicht die Rede sein kann. Immmerhin: durch sein Werk und die beigegebenen Kapitelverzeichnisse machte Ansegis die Kapitularien in einer ganz anderen Weise verfüg- und zitierbar, als dies bis zum Erscheinen seines Werkes möglich war. Den Fortschritt, den dies für die Administration des Reiches bot, hat man am Hof sofort erkannt. Schon 829 hat Ludwig der Fromme die Sammlung des Ansegis in seinen Wormser Kapitularien zitiert und nicht zuletzt dadurch dem liber legiloquus einen offiziösen Charakter verliehen. Dies hat zu der enormen Beliebtheit des Werkes, das wohl bald schon in nahezu jeder besseren Bibliothek des Frankenreiches zu finden gewesen sein dürfte, erheblich beigetragen: Noch heute läßt sich erkennen, daß mit den Wormser Gesetzen von 829 ein enormer Verbreitungsschub einsetzte.

Die im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica erscheinende Neuedition der Sammlung wird mit TUSTEP vorbereitet. Auf Grund verschiedener Umstände konnte TUSTEP leider nicht von Anfang an, sondern erst nach Abschluß der ersten Kollation und Erstellung eines ersten Editionstextes eingesetzt werden. Die vielfältigen Möglichkeiten des Programms boten von diesem Zeitpunkt ab eine willkommene Unterstützung: eine effiziente Nachkollation z.B. ließ sich dadurch erreichen, daß lediglich jeweils die Varianten einer Handschrift oder Handschriftengruppe ausgedruckt wurden. In Anbetracht der zahlreichen in die Edition einbezogenen Überlieferungen bot sich hier die Möglichkeit einer wirksamen Fehlerminimierung. Dank der Flexibilität des Programms und seiner Kapazität im ganzen war es möglich, die äußeren Besonderheiten einer MGH-Edition auch im Erscheinungsbild genau einzuhalten. Dies gilt auch für das Register, dem als Basis ein KWIC-Index zugrundelag. Durch die Verwendung spezieller Sortierkriterien war es möglich, die innerhalb eines Lemmas gebotenen Wortverbindungen nach sachgerechten Kriterien zu ordnen. Weil die so gewonnenen Registereinträge wieder in die Quelldatei eingespielt werden können, konnte ein fertiges Register von Personen, Orten, Sachen und Wörtern erstellt werden, ohne daß ein endgültiger Umbruch des zu edierenden Textes mit definitiven Seitenzahlen vorlag - ein im Vergleich zu herkömmlichen Prozeduren der Registererstellung arbeits- und zeitsparendes Verfahren.

Nach Abschluß der Edition wird ein komplettes Programmpaket vorliegen, das auch anderen Editoren zur Verfügung gestellt werden soll (und partiell bereits heute von anderen benutzt wird). Es wird allerdings nötig sein, die einzelnen Programmteile noch einmal zu überarbeiten und zu einem in sich stimmigen Baukasten zusammenzufügen. Nach Auffassung des Referenten sind nämlich viele mit Editionsvorhaben befaßte Kollegen nicht in der Lage, umfangreichere und vom Ablauf her optimale TUSTEP-Programme selbst zu schreiben. Sie arbeiten daher meist mit Textverarbeitungsprogrammen, die sie zwar selber einigermaßen kennen, die aber für Editionsvorhaben gar nicht konzipiert wurden und deshalb dafür letztlich auch nicht geeignet sind. Wo nicht, wie in Tübingen, eine unkomplizierte und direkte Kontaktmöglichkeit mit den entsprechenden Mitarbeitern des ZDV besteht, ist eine eigene TUSTEP-Programmierung oft zu kompliziert und für den weniger Erfahrenen auch zu zeitaufwendig. Da sich zudem absehen läßt, daß für Editionen lediglich ein Teil der von TUSTEP gebotenen Möglichkeiten genutzt werden muß, sieht der Referent in der Bereitstellung von aufeinander abgestimmten Programmbausteinen bzw. von Musterdateien einen vernünftigen Weg, eine ganz bestimmte Anwendergruppe instand zu setzen, ihre Edition mit professionellen Mitteln zu bearbeiten, ohne selbst Programmprofi zu sein.


aus: Protokoll des 61. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 2. Juli 1994