Aus dem Protokoll des 77. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 27. November 1999

 

Jürgen Herres (Berlin)

Der Einzug des Computers in die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) - Stand und Perspektiven

Die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) ist ein relativ großes Editionsunternehmen, das in vielfältiger Weise international vernetzt ist. Seine Anfänge liegen in den 1950er und 1960er Jahren, als in Moskau und Ost-Berlin auf höchster Ebene die Herausgabe der Ausgabe beschlossen wurde. Bereits in den 1920er Jahren war man in Moskau an die Herausgabe einer Gesamtausgabe gegangen, die aber bereits nach dem Erscheinen des 12. Bandes eingestellt worden war. Viele der damaligen Editoren fielen dem Terror Stalins zum Opfer.

Heute wird die Ausgabe von einer internationalen Stiftung herausgeben, die ihren Sitz in Amsterdam hat. An dieser Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES) sind fünf Institutionen beteiligt: das Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), das Karl-Marx-Haus in Trier als Teil der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie zwei russische Institute. 1991 hatte der deutsche Wissenschaftsrat die Aufnahme "dieser nach modernen historisch-philologischen Editionsprinzipien besorgten Ausgabe" in das Programm der von den Akademien betreuten Langzeitvorhaben empfohlen. Über die Arbeitsstellen in Berlin (sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) und in Moskau (zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) hinaus bestehen weitere Arbeitsgruppen in Trier und Aix-en-Provence sowie in Japan und anderen Ländern. Die IMES verfügt über keine nennenswerten eigenen Mittel. Deshalb bereitet insbesondere die Finanzierung der Moskauer Gruppen große Schwierigkeiten.

Voraussetzung für diese Reorganisation und Fortführung der Ausgabe war eine "Akademisierung" des Projektes, d.h. der vorbehaltlose Verzicht auf jede parteipolitische Zielsetzung. Als Herausgeber der Gesamtausgabe hatten vor 1990 die Institute für Marxismus-Leninismus bei den Zentralkomitees der KPdSU und der SED fungiert. Diese hatten auch der MEGA im Rahmen der - wie es damals hieß - "Entfaltung der internationalen ideologischen Offensive des Marxismus-Leninismus" eine politische Funktion zugedacht. Die enge Parteibindung beeinflußte die Arbeit am auffälligsten in den Einleitungen, die den Bänden jeweils vorangestellt wurden.

Fortgesetzt wurde die Reorganisation der MEGA 1992 durch eine Überarbeitung der Editionsrichtlinien, die gedruckt vorliegen, und 1994 durch eine Reduzierung der geplanten Bände (auf insgesamt 114 Bände, wovon vor 1990 43 erschienen waren). Abgeschlossen wurde sie 1998 durch den Wechsel vom ehemaligen Parteiverlag Dietz, Berlin, zum Akademie Verlag. 1998 erschien im Akademie Verlag der erste "neue" MEGA-Band, dem 1999 zwei weitere folgten.

Die MEGA unterlag nach 1990 aber nicht nur einem wissenschaftlichen und organisatorischen Wandel, sondern mußte auch einen technischen Umstrukturierungsprozeß vollziehen. Letzterer war vor allem deshalb schwierig, weil ein EDV-Konzept im laufenden und sich selbst wandelnden Editionsprozeß zu erstellen und umzusetzen war. Die Frage war deshalb nicht zuletzt, wie puristisch - aus EDV-Sicht - man verfahren sollte. Es wurde ein Weg des Pragmatismus gewählt, der aber zukunftsorientiert ist. Es reicht auch im EDV-Bereich nicht aus, aus einem abstrakten Prinzip heraus das Notwendige zu propagieren. Das wirkt erbarmungslos. Man muß den Wünschen und Sorgen der Beteiligten Rechnung tragen.

Die Umstellung auf die Computer-Erfassung der Texte und die Computer-gestützte Satzherstellung ist inzwischen Realität geworden. Mit geringem Personal- und Finanzeinsatz wird heute eine EDV-gestützte Edition betrieben, die die Eingabe und wissenschaftliche Bearbeitung der Texte bis hin zur satz- und drucktechnischen Fertigstellung umfaßt. Bis 1990 standen allein für die Endredaktion der Bände zwei Redaktionsabteilungen im IML Berlin und im Dietz-Verlag bereit, darüber hinaus eine eingespielte Setzerei und Druckerei in Leipzig. Erste Ansätze zu einer EDV-gestützten Edition hat es bereits in der DDR gegeben. Seit 1986 war der Einsatz der "Mikrorechentechnik" auch in der Marx-Engels-Edition geplant und begonnen worden. Eine Übernahme der mittels EDV erfaßten Textdaten in den Satz hielt man aber auf absehbare Zukunft nicht für möglich.

Heute werden die Texte in der Regel von den Bearbeitern manuell mittels eines einfachen Textverarbeitungsprogramms (Word für Windows) erfaßt. Durch das Arbeiten mit sog. Formatvorlagen wird versucht, den Text mit Informationen anzureichern, die nachträglich einzugeben sehr aufwendig wäre. Es handelt sich hierbei um erste Auszeichnungsschritte, auf denen im weiteren aufgebaut werden kann. Durch die Abkehr vom Papiermanuskript und den Übergang zur Computererfassung der Texte sind auf die Bearbeiter neue und zusätzliche Aufgaben zugekommen, die häufig als Belastung empfunden werden.

Die Satzvorbereitung wird für alle MEGA-Bände in Berlin vorgenommen. In diesem Arbeitsschritt werden technische Eingabefehler der Bearbeiter berichtigt, die Textdaten vereinheitlicht und durch das Einbringen von Klartextkodierungen weiter strukturiert. Durch Zusatzprogramme, die ein EDV-Mitarbeiter der Akademie dankenswerterweise erstellt hat, können Auszeichnungen des Textprogramms Word für das Satzprogramm nutzbar gemacht werden. Angaben und Informationen, die für den Satz notwendig sind, werden weitgehend auf der Grundlage der "Generellen Satzanweisung" festgelegt, die vor 1990 erstellt worden war.

Den Satz führt pagina, Tübingen, aus, das die in Berlin vorbereiteten Textdaten in TUSTEP übernimmt und in diesem Programm auch den Satz durchführt. Dies war eine bewußte Entscheidung. Die Typographie der neuen Bände sollte jeden Vergleich mit der der früheren aushalten können. Dies ist gelungen. Vor allem aber sollten die Textdaten nach Satz und Druck für jede Weiterverwendung zur Verfügung stehen. Lästige Nacharbeiten in den ursprünglichen Word-Dateien sollten nicht anfallen. Jede Weiterverarbeitung kann nun auf den Satzdateien aufsetzen und die Strukturinformationen, die in diesen Satzdateien enthalten sind, benutzen. Der Akademie-Verlag ist grundsätzlich bereit, eine auf der Weiterverarbeitung der Daten beruhende CD-ROM-Ausgabe zu unterstützen.

Die Grundlagen für die weitere Herausgabe von MEGA-Bänden wurden so auch in technischer Hinsicht geschaffen. Aber zu Euphorie besteht kein Anlaß. Selbstkritisch muß man festhalten, daß die MEGA erst am Anfang eines Wandlungsprozesses steht. Weitere Innovationen sind unabdingbar. Insbesondere für die Erstellung und Erarbeitung des kritischen und sacherläuternden Apparats wird die elektronische Datenverarbeitung gegenwärtig nicht ausreichend genutzt. Der Apparat mit seinen unterschiedlichen Elementen gehört aber zum Kernbestand jeder historisch-kritischen Ausgabe, so auch der MEGA. Verbesserungen und Effektivierungen sind nicht zuletzt hier wünschenswert angesichts des enormen wissenschaftlichen und editorischen Aufwands, den die Apparate widerspiegeln. Vier Problembereiche sollen hervorgehoben werden:

  1. Die Anbindung von Text und Apparat stellt weiterhin ein Problem dar. Noch immer sind zumindest bei den Bänden, die in den nächsten beiden Jahren fertiggestellt werden, lästige und aufwendige Anpassungsarbeiten nach dem Satz des Edierten Textes nötig. Zur Lösung dieses Problems liegen seit längerer Zeit Vorschläge vor, die im wesentlichen auf einer Anbindung des Apparats im Textprogramm Word für Windows mittels Fuß- bzw. Endnoten beruhen. Jedoch aufgrund der relativ langen Vorlaufzeit bei der Bearbeitung von MEGA-Bänden benötigt die Umsetzung dieser Vorschläge Zeit. Die vorgeschlagenen Verfahren können in der Praxis, insbesondere im Satz, erst im nächsten Jahr bei der Fertigstellung eines MEGA-Bandes der zweiten Abteilung ("Das Kapital" und Vorarbeiten) zum ersten Mal getestet werden.
  2. Zu den Herausforderungen historisch-kritischen Edierens gehört ohne Zweifel der Nachvollzug der Genese, der Entwicklung eines Textes, soweit dies die Überlieferungslage zuläßt. Hinweisen möchte ich vor allem auf die Wiedergabe komplizierter Handschriftenverhältnisse. Dies ist auch in der MEGA nicht anders. Das Ziel eines jeden (lemmatisierten) Apparats ist und war es, dem Leser die punktuelle Konsultation der Überlieferung zu ermöglichen. Auch bei unserem Apparat denken wir noch immer ausschließlich an einen Leser, der bei der Lektüre der Marx/Engels-Texte Zeile für Zeile auf den Apparat zurückgreift, um sich die Unterschiede zu vergegenwärtigen. Man könnte aber den Apparat zumindest am Computer dadurch lesbarer gestalten, daß man die Varianten nicht nur punktuell verzeichnet, sondern im Textzusammenhang darbietet. Noch ein zweiter Gesichtspunkt tritt hinzu: Die elektronische Datenverarbeitung macht es auch möglich, den kritischen Apparat, also Varianten- und Korrekturenverzeichnisse sowie das Verzeichnis der Einfügungen, Bemerkungen und Überlegungen von Marx und Engels, unmittelbar aus dem Edierten Text quasi (halb-)automatisch erstellen zu lassen. Aus beiden Gesichtspunkten heraus überlegen wir, in Zukunft vom bisherigen durch das Buch vorgegebenen Verfahren abzuweichen. Wie können wir bereits während der Texteingabe dafür die Voraussetzungen schaffen?
  3. Ein wichtiger Punkt ist ferner die halbautomatische Erstellung der Register. Leider sehen sich nicht alle Bearbeiter in der Lage, bereits im Textprogramm Word für Windows die Kennzeichnung von Registereinträgen vorzunehmen. Wir streben dies allerdings als Standard an, in den erfaßten Texten und Apparattexten Personen und Literaturangaben unbedingt zu markieren, d.h. als Registereinträge zu kennzeichnen.
  4. Immer drängender stellt sich schließlich die Notwendigkeit, Datenbanken zur Unterstützung der Arbeit an den Erläuterungen und den Registern einzurichten. Angesichts der internationalen Vernetzung des Projekts ist dies aber besonders schwierig. Bereits vor 1990 gab es hierzu erste ambitionierte Versuche. Inzwischen haben vor allem die Moskauer Kollegen dieses Ziel nicht aus den Augen verloren und im Textprogramm Word für Windows mit der Erstellung eines Gesamt-Personenregisters und eines Gesamt-Briefverzeichnisses begonnen. Aber diese können natürlich in keiner Weise eine Personen- und eine Literaturdatenbank ersetzen, die auf einer sog. Client-Server-Technologie beruhen könnte.

Zusammenfassend: Die MEGA hat heute einen festen Platz an einer deutschen Akademie der Wissenschaften gefunden. Gleichzeitig kann die MEGA als ein großes internationales Editionsprojekt betrachtet werden. Die ersten "neuen" Bände sind nun erschienen, und in den nächsten Jahren werden jeweils mindestens zwei Bände (bestehend jeweils aus einem gesondert gebundenen Text- und einem Apparatteil) pro Jahr veröffentlicht werden. Auch aus Perspektive der EDV wurde eine solide Ausgangsbasis für die Fortführung der MEGA geschaffen. Nichtsdestoweniger bestehen gerade aus EDV-Sicht weiterhin wichtige Defizite und Probleme. Bei deren Lösung bleibt das Unternehmen auf Unterstützung angewiesen. Die Schwierigkeit liegt nicht zuletzt darin, einfache Lösungen zu finden, die auch in einem so vernetzten und gewachsenen Editionsunternehmen wie der MEGA realisierbar sind.

Zum Schluß noch ein Hinweis: Den Problemen und Perspektiven der MEGA aus Sicht der EDV wird demnächst ein Heft der MEGA-Studien, Amsterdam, hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, gewidmet sein. Die MEGA-Studien erscheinen zweimal im Jahr als ergänzende Zeitschrift zur Ausgabe. Informationen zur MEGA finden sich im WWW unter http://www.bbaw.de/vh/mega/index.html.


aus: Protokoll des 77. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 27. November 1999