Aus dem Protokoll des 84. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 2. Februar 2002

 

Gerhard Schmitz (München); Clemens Radl (Tübingen)

Die Edition der Kapitulariensammlung des Benedictus Levita

Das im folgenden vorgestellte Projekt wird getragen von der Abteilung für mittelalterliche Geschichte des Historischen Seminars der Universität Tübingen (Prof. Dr. Wilfried Hartmann) und den Monumenta Germaniae Historica, München (Priv.-Doz. Dr. Gerhard Schmitz). Ziel ist eine kritische Edition in Buch- und elektronischer Form. Für den grundlegenden Teil der Arbeit wird TUSTEP eingesetzt. Die TUSTEP-Programmierung lag in den Händen von Dr. Wolfhard Steppe, der damit für ein anderes Editions-Projekt ("Concilia 5" [ein Bericht darüber wurde am 4. Okt. 1999 beim Kongress der ITUG in Burgos gegeben]) konzipierte Programme weiterentwickelt hat. Da die Mitarbeiter von verschiedenen Orten auf die Arbeitsdateien zugreifen müssen, war es nötig, ein besonderes System der Datenhaltung zu entwickeln. Dies, wie auch die Web-Darstellung, war und ist Aufgabe von Clemens Radl (Tübingen). Informationen über den Stand des Unternehmens sowie eine Fülle von Materialien (Handschriftentexte, Literatur, Quellen- und Rezeptionstexte u.a.m.) können jederzeit über http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/haupt.htm eingesehen und abgerufen werden. Das Datenverwaltungssystem steht nur den Mitarbeitern offen.

1. Der Editionsgegenstand

Editionsgegenstand ist eine drei Bücher und vier Additiones umfassende Sammlung aus der Mitte des 9. Jahrhunderts, die sich als "Kapitulariensammlung" ausgibt. Unter Kapitularien versteht man die in Kapitel (daher der Name) gegliederten Produkte legislatorischer Bemühungen der karolingischen Könige und Kaiser, namentlich Karls des Großen und Ludwigs des Frommen. Sie erstrecken sich auf alle Gebiete rechtlichen Lebens und werden nach einer einmal von Ludwig dem Frommen gebrauchten Etikettierung unterschieden in capitula legibus addenda, capitula ecclesiastica und capitula per se scribenda. Ersteres meint die Gesetzgebung, die die "Volksrechte" (der Franken, Bayern, Sachsen usw.) ergänzen sollte, letzteres umfasst Normen oder Anordnungen, die weder dem volksrechtlichen noch dem kirchlichen (capitula ecclesiastica) Bereich angehören. Diese Unterscheidung ist in praxi aber lediglich von heuristischem Wert: Eine präzise Unterscheidung zwischen einzelnen Rechtsmaterien war für den fränkischen König kaum möglich, sie wäre auch nicht praktikabel gewesen. Die meisten Kapitularien sind deshalb auch capitula mixta, d.h. sie enthalten Kirchliches, Weltliches, Volksrechtliches, Grundsätzliches und Punktuelles, regional und überregional Gültiges, Kapitel mit theoretisch unbegrenztem Gültigkeitsanspruch und solche, die sich nach Ausführung von selbst erledigen, in buntem Durcheinander. Ein "Gesetzbuch", in das die Kapitularien eingetragen oder in dem sie gar nach systematischen Gesichtspunkten geordnet worden wären, hat es im fränkischen Reich im Gegensatz etwa zu den Langobarden nicht gegeben. Hier ein wenig Ordnung zu schaffen, hat der Abt Ansegis von St. Wandrille (gest. 833) unternommen: Im Jahre 827 stellte er eine vier Bücher umfassende Collectio zusammen, die das ihm zugängliche Material nach kirchlichen und weltlichen Gesichtspunkten und nach den Gesetzgebern Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen zu gliedern versuchte (Buch 1 und 3: Kirchliche und weltliche Rechtssätze, die Karl dem Großen zugeschrieben wurden [mit Fehlzuweisungen], Buch 2 und 4: Kirchliche und weltliche Rechtssätze, die Ludwig zugewiesen wurden [ebenfalls mit Fehlzuweisungen]). In drei Appendices ist Material gesammelt, das sich in den vorhergehenden Büchern aus verschiedenen Gründen nicht unterbringen ließ. Der Erfolg der (keineswegs in jeder Hinsicht überzeugenden) Sammlung des Ansegis war ungemein groß: Erstmals lag ein Großteil karolingischer Gesetzgebung, der ansonsten nur in Abschriften auf einzelnen Pergamentzetteln zugänglich war, in geordneter, zitier- und nachschlagbarer Form vor. Schon Ludwig der Fromme hat zwei Jahre danach aus dieser Sammlung zitiert und ihr dadurch eine Art offizieller Weihe gegeben: Wenn in der Folgezeit vom 'Buch der Kapitularien' die Rede war, dann war damit in aller Regel die Sammlung des Ansegis gemeint (Edition: MGH Capitularia N.S. 1, 1996, ed. Gerhard Schmitz).

Etwa zwanzig Jahre später erschien eine weitere Sammlung, die sich als "Kapitulariensammlung" und expressis verbis als Fortsetzung der Sammlung des Ansegis ausgab. Ihr Autor nannte sich in den Eingangsversen und im Vorwort "Benedictus" und behauptete, er sei von Stand "Levita" (Diakon) und habe vornehmlich im Archiv der Mainzer Kirche gearbeitet. Den Auftrag dazu habe ihm Erzbischof Otgar gegeben. Da er von Otgar, der 847 gestorben ist, als einem bereits Toten spricht, ergibt sich der Terminus post quem. Der sichere Terminus ante quem ergibt sich aus der ersten eindeutigen Zitierung der Sammlung durch Erzbischof Hinkmar von Reims aus dem Jahre 857. Nach 847 und vor 857 muss die Sammlung also ans Licht gekommen sein, möglicherweise lässt sich die Sammlung noch ein halbes Jahrzehnt vordatieren, aber das ist nicht absolut sicher. Im Archiv der Mainzer Kirche habe Benedict, so lässt er uns in seinem Vorwort wissen, all die Kapitel gesammelt, die seinem Vorgänger Ansegis entgangen seien oder die er vielleicht, aus welchen Gründen auch immer, nicht in sein Werk habe aufnehmen wollen. Er habe relativ eilig gearbeitet und deshalb sei ihm manches zweimal oder gar dreimal in sein Werk geraten. Das habe er nicht mehr (aus-)sortieren können. Im übrigen verhalte es sich so: Manche Kapitel seien am Anfang gleich, in der Mitte und am Schluss aber verschieden, manche am Schluss gleich, aber am Anfang verschieden, manche wieder in der Mitte gleich, aber am Anfang und Schluss verschieden - hier möge der geneigte Leser doch bitte selber Ordnung schaffen. Anders als Ansegis ordnet Benedict seine Kapitel auch keinem speziellen Gesetzgeber zu, und eine Unterscheidung in weltliche bzw. kirchliche Rechtsbereiche wird erst gar nicht versucht. Auf diese Weise überhäuft Benedict den Leser mit einem Wust von insgesamt 1732 Kapiteln, die sich in wilder Unordnung befinden. Außer inhaltlichen Plausibilitätsgründen hatte der mittelalterliche Leser kein Kriterium, nach dem er die Sammlung hätte analysieren oder beurteilen können. Die moderne Forschung hat indessen längst herausgefunden, dass die Collectio Benedicti alles andere als eine "Kapitularien"-Sammlung ist. Schon aus diesem Grunde gilt sie als Fälschung: Sie gibt sich als etwas aus, was sie auf weite Strecken gar nicht ist, nämlich als eine Sammlung königlicher Rechtssätze. Indessen muss man den Begriff "Fälschung" differenziert betrachten: Es ist keineswegs alles gefälscht, was Benedict bietet. In der von ihm tradierten Textmasse befinden sich zahlreiche echte Stücke, zum Teil von hervorragender Textqualität und in Einzelfällen überhaupt nur durch ihn überliefert. Diese echten Stücke können überlieferungsgerecht tradiert, aber auch redigiert (jedoch nicht verfälscht) sein. Weiter finden sich aber auch verfälschte Stücke, vollständige Fälschungen, die mosaikartig aus echten Quellenstücken zusammenmontiert sind, und schließlich noch solche, die nur der Phantasie ihres Urhebers entsprungen sind. Die Tendenz der Fälschungen und Verfälschungen zeigt die Richtung, in der Urheber des Werkes zu suchen ist: Er gehört zum Kreis der "Pseudo-Isidorianer", also jener Gruppe von Personen, denen wir die "Pseudoisidorischen Fälschungen" verdanken, die Johannes Haller "den größten Betrug der Weltgeschichte" genannt hat. Ihren Namen hat dieses Ensemble von Fälschungen durch die päpstlichen Pseudo-Dekretalen erhalten, als deren Sammler ein "Isidorus Mercator" auftritt, den es ebenso wenig gegeben hat wie einen in Mainz arbeitenden "Benedictus Levita": Schon weil sie sich so nennen, heißen sie nicht so, könnte man in leichter Abwandlung eines Satzes von Friedrich Maassen formulieren. Neusten Forschungen von Klaus Zechiel-Eckes haben wir die Erkenntnis zu verdanken, dass die Fälschercrew aller Wahrscheinlichkeit nach im Kloster Corbie (im nördlichen Westfrankenreich gelegen) arbeitete (Zusammenfassung des Forschungsstandes sowie Perspektiven künftiger Forschung in: Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen, hg. von Wilfried Hartmann und Gerhard Schmitz [Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 313, 2002]; der Band enthält Beiträge zu einem gleichnamigen Symposium, das Ende Juli 2001 in Tübingen stattfand).

Wie aus den gemachten Andeutungen ersichtlich sein dürfte, stellen die pseudoisidorischen Fälschungen allerhöchste Ansprüche an Text- und Quellenkritik. Nicht zuletzt deshalb haben sie sich bislang als "editionsresistent" erwiesen: Weder das Fälschungsensemble als ganzes noch die einzelnen Teile (Pseudoisidorische Dekretalen, Benedictus Levita, die sog. Capitula Angilramni und die Collectio Hispana Gallica Andegavensis, evtl. noch weitere kleinere Fälschungen) liegen in einer kritischen Edition vor. Verschiedene Anläufe sind von verschiedenen Forschern gemacht worden, nichts wurde erfolgreich abgeschlossen. Eine besondere historia calamitatum bietet die Editionsgeschichte des Benedictus Levita.

2. Die Editionsgeschichte

Die editorischen Versuche von Jean du Tillet (gest. 1570) und den Brüdern Pithou (Pierre gest. 1596, Fran�ois gest. 1621) beiseite gelassen, stammt der erste ernsthafte Versuch einer 'kritischen' Edition von Étienne Baluze (gest. 1718), dessen 1660 begonnene Forschungen siebzehn Jahre später in einer zweibändigen Ausgabe der "Capitularia Regum Francorum" einmündeten. Keine Frage: Die Leistung von Baluze ist ganz außerordentlich, er sammelte und verwertete, was er an Informationen und Handschriften bekommen konnte, seine quellenkritischen Beobachtungen verdienen trotz mancher Irrtümer unverändert Respekt. Dennoch genügte diese Edition den wachsenden Anforderungen einer in philologischer und quellenkritischer Hinsicht anspruchsvoller gewordenen Wissenschaft nicht, sie war im eigentlichen Sinne auch keine 'kritische' Ausgabe (und konnte es auch nicht sein). Die nächste Gelegenheit einer kritischen Ausgabe bot sich in den Monumenta Germaniae Historica. Im Gegensatz zu Ansegis, bei dessen Sammlung Georg Heinrich Pertz (gest. 1876) mit einem ehemals in der Abtei Corvey beheimateten Codex einen exzellenten Griff tat, sah es bei der Sammlung Benedicts entschieden schlechter aus: Pertz hatte sich damit nicht sonderlich viel Mühe gegeben, einesteils weil er die Edition von Baluze für wohlgeraten hielt und anderenteils weil er der Ansicht war, im Gegensatz zu Ansegis habe die Sammlung Benedicts im Ostfränkischen Reich, also dem nachmaligen Deutschen Reich, nicht viel gegolten (im Gegensatz zum Westfrankenreich). Die Edition Baluzes, so sagte er, "werde er nur notdürftig mit Hilfe einer ihm vorliegenden Gothaer Handschrift berichtigen und der Nachwelt überlassen, darin mehr zu tun". In der Tat bietet die Monumenta-Edition von 1835 (MGH Leges in fol. 2) im Grunde einen Abdruck des Baluze-Textes, der durch die Kollation einer Sekundärhandschrift, des Codex Gotha, Forschungsbibl. Membr. I 84, "korrigiert" (d.h. in concreto: selten korrigiert, oft verschlechtert) wurde; eine quellenkritische Einleitung verfasste der damals knapp dreißigjährige Friedrich Knust, die Kollation des Gothanus stammt von dem damals gerade etwa fünfundzwanzig Jahre alten Ludwig Bethmann. Mit dem Ergebnis konnte die Wissenschaft nicht zufrieden sein und sie war es nicht. Um das herauszufinden, braucht man keine eigenen Forschungen anzustellen, man kann sich auf das Arsenal beschränken, das Emil Seckel bereitgestellt hat: "Pseudokritisch" sei diese Edition, einen "Mischtext eigener Mache" habe Pertz produziert, die Kenntnis des Gothanus sei "dissimuliert", "einen willkürlich interpolierten Text des ihm allein bekannten Gothanus (habe) Pertz ohne Besinnen an die Stelle des guten der ed. Baluz. gesetzt" und was dergleichen Vorwürfe und Ausstellungen mehr sind. Eine Neuausgabe stand seit längerem auf dem Plan der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica; sie wurde Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts dem jungen Victor Krause übertragen, der einschlägige editorische Erfahrungen beim zweiten Band der Capitularia gesammelt und sich damit wissenschaftlich ausgewiesen hatte. 1895 hat er noch eine Reise nach Rom unternommen, um dort Handschriften zu sichten, aber 1896 ist er, im Alter von gerade 31 Jahren, verstorben. 1896 übertrug die Zentraldirektion die Editionsaufgabe "dem Privatdocenten Herrn Dr. Emil Seckel in Berlin". Seckel war ein ungemein gebildeter und auf vielen Gebieten des Faches tätiger Jurist, aber Benedict sollte bis zu seinem Tode sein zentrales Arbeitsfeld bleiben. Insbesondere hat er sich einen Namen als Quellenkritiker gemacht, der bis in Wortpartikel hinein die Quellen Benedicts aufspürte und dabei Zeitloses geleistet hat. Bisweilen konnte er jedoch auch über das Ziel hinausschießen, etwa wenn er Sätze formulierte wie diesen: "Der Textunterschied zwischen Ben. und Angilr. beschränkt sich auf einen Buchstaben: 'Re vera ut' Ben., 'revera et' Angilr. Das 'ut' bei Ben. ist originalgetreu. Daraus folgt aber nicht die Priorität Benedikts, weil (im Ur-Angilram sehr leicht 'ut' gestanden haben oder, wenn dies nicht zutraf) Ben. selbst sehr leicht auf die minimale Aenderung am Texte Angilrams verfallen sein kann. Auf den einen Buchstaben wird ohnehin Niemand weittragende Schlussfolgerungen aufbauen wollen" . Seine gesammelten Quellenstudien, die bis zu seinem Tode im Jahre 1924 erschienen, umfassen alles in allem wohl an die tausend Seiten und sind wohl ein "fast unfehlbarer Schlüssel zu Benedictus Levita" (Paul Kehr), aber sie blieben unvollendet. Zwar meinte Kehr beim Ableben Seckels, die Arbeit sei im wesentlichen getan, aber das war ein Irrtum. Seckel hat selber gar keine konkreten Vorstellungen mehr entwickelt, wie denn die eigentliche Edition aussehen sollte; sich hierüber Gedanken zu machen, blieb Josef Juncker vorbehalten, der die Edition übernahm und zunächst die quellenkritischen "Studien" bis zum Ende des dritten Buches fortführte (erschienen 1934/35). Von Juncker haben sich im Monumenta-Archiv einige "Schedulae pseudoisidorianae" erhalten, die zeigen, wie man sich in etwa die Edition hätte vorstellen können: Die "Schedulae" zeigen, dass ein Blatt Papier zumindest im Quartformat kaum oder nicht genügend Platz bietet, um alle Informationen unterzubringen, die bei einem Text mit dem Schwierigkeitsgrad, den Benedict mitunter erreicht, vonnöten sind (Abbildung bei Gerhard Schmitz, "Unvollendet" - "Eingestampft" - "Kassiert". Nie Erschienenes und Missglücktes, in: Zur Geschichte und Arbeit der Monumenta Germaniae Historica. Ausstellung anlässlich des 41. Deutschen Historikertages München, 17.-20. September 1996, Katalog S. 72, ferner unter http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/projekt/material/schedul.htm). Nicht zuletzt in den Problemen, die eine adäquate Präsentation der Sammlung im Druck bot, dürfte die Edition gescheitert sein, denn auch Juncker hinterließ nichts, als er 1938 starb. Ein tatkräftiger und fähiger Nachfolger fand sich nicht mehr, und so konnte Horst Fuhrmann 1972 lakonisch folgendes Resümee ziehen: "Eine Neuausgabe der Kapitulariensammlung des Benedictus Levita im Rahmen der MG ist zur Zeit nicht vorgesehen". Das ist seit der Sitzung der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica im Frühjahr des Jahres 1998 wieder anders: Wilfried Hartmann und Gerhard Schmitz wurden mit der Neuedition beauftragt, die mit einer Neukonzeption begonnen und bis zum Sommer 2001 von der DFG gefördert wurde.

3. Die Neuedition

Das Konzept der Neuedition basiert auf folgenden zunächst eher arbeitsökonomischen und organisatorischen Überlegungen: Erstens zeigt die Editionsgeschichte, dass eine Quelle vom Format des Benedict von einem Einzelnen heutzutage nicht mehr bewältigt werden kann. Es ist kein Zufall, das viele wichtige und entweder umfangreiche oder vielfach überlieferte Quellen bislang editorisch nicht in Angriff genommen wurden oder Editionsversuche gescheitert sind (Näheres dazu bei Wilfried Hartmann, "Schwierigkeiten beim Edieren" in dem oben genannten Sammelband "Fortschritt durch Fälschungen"). Begründete Aussicht auf Erfolg bietet also nur ein Editionsteam. Es bestehen keine Aussichten, die Mitarbeiter der Edition an einem Ort zu versammeln: Arbeitsmaterialien auf Zetteln oder Karten, aufbewahrt in Mappen oder Aktenschränken, scheiden deshalb aus. Deshalb war es konsequent, auf die elektronische Form der Editionsarbeit zu setzen. Zudem war ein Dateiverwaltungssystem zu entwickeln, das erstens jedem Mitarbeiter den Zugriff auf die Dateien erlaubte, andererseits aber verhinderte, dass an nicht mehr aktuellen Versionen gearbeitet wurde und was dergleichen "Datenverarbeitungsunglücke" mehr sein können. Des weiteren sollten durch dieses System sämtliche Arbeitsschritte, die an den Dateien vorgenommen werden, protokolliert werden. Die älteren Versionen einer Datei mussten gespeichert und bei Bedarf wiederhergestellt werden können. Zugleich sollte die Fachwelt die Möglichkeit haben, die Fortschritte der Arbeit einsehen zu können und sie gegebenenfalls mit kritischen Ratschlägen zu begleiten. Deshalb war von vornherein eine Web-Präsentation geplant, die zugleich seltenere, für Benedictus Levita aber wichtige Materialien enthalten sollte.

Die Realisierung erfolgte in zwei Richtungen: Zum einen war der Text der Überlieferung zu erfassen. Herkömmlicherweise wäre dies durch Kollationen erfolgt, die die Abweichungen eines Überlieferungsträgers von einem vorgegebenen Kollationstext protokollieren. In diesem Fall wurde der umgekehrte Weg beschritten: Der digitalisierte Baluze-Text wurde an die Form der jeweiligen Handschrift angeglichen, so dass jeweils ein Volltext entstand, der mit dem des jeweiligen Überlieferungsträgers identisch ist; nicht Abweichungen wurden protokolliert, sondern Identisches hergestellt. Deshalb sind wir in der Lage, auf der Web-Site die handschriftenidentischen Texte Benedicts überlieferungsgerecht zu präsentieren. Die Bibliotheken sind meist zögerlich, wenn es um die Digitalisierung und elektronische Präsentation ihrer Handschriften geht; deshalb ist uns die Präsentation der Handschrift selber bislang nur in einem, allerdings nicht unwichtigen Fall möglich: Mit der Handschrift Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kulturbesitz, Codex Phillipicus 1762 liegt uns noch eine Arbeitshandschrift des Erzbischofs Hinkmars von Reims (gest. 882) vor, die - neben der Kapitulariensammlung des Ansegis - die vier Additiones der "Kapitularien"-Sammlung des Benedictus Levita enthält. Dieser Teil der Handschrift kann in verschiedenen Vergrößerungsstufen neben dem transkribierten Text der Handschrift auf der WWW-Seite des Projekts betrachtet werden: http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/handschriften/b7t.htm

Abbildung 1: Seite einer Benedict-Handschrift

Die handschriftenidentischen Volltexte wurden automatisch mit Hilfe des TUSTEP-Programms "Vergleiche" miteinander verglichen, die Abweichungen wurden abgespeichert und nach mäßiger, "per Hand" erfolgter Bearbeitung in eine Volltextdatei eingefügt.

Abbildung 2: Schematische Darstellung des Arbeitsablaufs

Die Arbeit der Herausgeber bestand somit vor allem darin, geeignete Aufsatzpunkte für den Vergleich zu bestimmen und Kriterien zu entwerfen, nach denen der Textvergleich und die Zusammenführung der Einzeltexte erfolgen sollte. Der zeitaufwändige und fehlerträchtige manuelle Vergleich der einzelnen Textzeugen musste dagegen nicht durch die Editoren erfolgen. Auf diese Weise entstand eine "Basis-Datei" mit einem textkritischen Apparat, die als Ausgangspunkt für die endgültige Edition dient. Wesentlich war, dass auf diese Weise in relativ kurzer Zeit ein editorischer "Rohtext" von gleicher Qualität für den gesamten Text erstellt werden konnte. Die kritische Edition wird nämlich nicht von "vorne nach hinten" bearbeitet, sondern nach den von Benedict benutzten Quellenblöcken (derer er sich in der Regel an mehreren Stellen seines Werkes bedient hat). Bei der Erstellung von Registern kann wieder auf die bewährten Hilfsmittel zurückgegriffen werden, die von TUSTEP zur Verfügung gestellt werden. Gleiches gilt für den Satz des fertigen Textes, der ebenfalls durch das Tübinger Softwarepaket geschehen kann. Somit ist es den Herausgebern möglich, den vollständigen Entstehungsprozess zu überwachen. Dank der hohen Verarbeitungsgeschwindigkeit ist es praktikabel und sogar sinnvoll, auch nach kleineren Korrekturen einen Satzprogrammlauf durchzuführen, um sogleich die Auswirkungen im Druckbild überprüfen zu können.

Dank der von TUSTEP gebotenen Möglichkeiten sind die edierten Texte jederzeit aus dem Gesamtbestand herauszufiltern und nach Quellengruppen getrennt oder insgesamt auszudrucken oder anderweitig weiter zu verwenden. Die edierten Texte werden in einem anwendungsneutralen Auszeichnungsformat vorgehalten, das sehr leicht auch in standardisierte Textauszeichnungssysteme wie XML/SGML zu überführen ist. Dadurch ist gewährleistet, dass bei Bedarf weitere Verarbeitungsschritte auch problemlos mit anderen Software-Programmen, die auf die Verarbeitung von XML/SGML-Daten spezialisiert sind, durchgeführt werden können. Aus ein und derselben fertigen Editionsdatei können die verschiedenen Zielprodukte hergestellt werden (gedruckte Edition im herkömmlichen Sinne, Internetpräsentation, Veröffentlichung auf CD-ROM, ...). Die Vorteile einer elektronischen Edition liegen auf der Hand: Da Speicherplatz kein Problem darstellt, können - im Gegensatz zu dem auf das zweidimensionale Papier beschränkten Buchdruck - mehr Informationen geboten werden. Volltexte der Quellen und der Rezeption können bei Bedarf ebenso herangezogen werden wie kurze Ausschnitte aus der relevanten Sekundärliteratur. In einer typischen gedruckten Edition werden Quellenzitate durch besondere Schriftauszeichnung (z.B. Kursivdruck) kenntlich gemacht. Hierbei ist bei der gleichzeitigen Verwendung mehrer Quellen im selben Abschnitt auf den ersten Blick nicht immer ersichtlich, aus welcher Quelle ein bestimmtes hervorgehobenes Wort stammt. Die elektronische Edition ermöglicht es hier, die individuelle Zuordnung für den Benutzer sichtbar zu machen (etwa durch farbliche Auszeichnungen). Der Mehrwert der digitalen Edition wird erst dann zu einem wirklichen Vorteil, wenn die zusätzlich gebotenen Informationen durch den Benutzer individuell auf die jeweiligen Interessen zugeschnitten werden können: Was man nicht sehen will, blendet man einfach per Mausklick aus. Ein weiterer Vorteil einer elektronischen Edition ist ihr dynamischer Charakter: Sie kann jederzeit ergänzt und korrigiert werden. Eine Anpassung an den aktuellen Forschungsstand ist zeitnah möglich. Interessierte Benutzer können evtl. Kommentare in die Arbeit einfließen lassen. Eine elektronische Edition ist somit niemals wirklich abgeschlossen, sondern im Idealfall ständig in der Weiterentwicklung. Um aber die langfristige Zitierbarkeit der elektronischen Edition zu gewährleisten, ohne die sie in der wissenschaftlichen Praxis keine Akzeptanz finden könnte, ist es erforderlich ein Versionierungssystem einzuführen, sodass ältere Bearbeitungsstände rekonstruiert werden können, was etwa zur Nachprüfung von Zitaten, die sich auf einen länger zurückliegenden Zeitpunkt beziehen, unerlässlich ist. Durch die elektronische Edition ist es möglich, der komplexen Quellen- und Überlieferungslage der Falschen Kapitularien des Benedictus Levita gerechter zu werden als mit einer lediglich in Buchform vorliegenden Ausgabe. Die möglichst automatische Umsetzung der edierten Texte in eine im Netz präsentierbare Form, die jedoch zugleich bereits jetzt sicherstellt, dass die in der gedruckten Version gegebenen Seiten- und Zeilenzahlen auch in der elektronischen erhalten bleiben und damit eine absolute Kompatibilität gewahrt ist, befindet sich noch in einem Experimentierstadium, die endgültige Lösung ist noch nicht gefunden. Auf der Webseite des Projekts werden verschiedene Probeeditionen zur Diskussion gestellt: http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/edition/edition.htm

Die zweite Richtung, die von vornherein verfolgt wurde, war die Digitalisierung von ergänzenden Materialien. Digitalisiert wurde nicht nur die wissenschaftsgeschichtlich interessierende editio princeps Jean du Tillets (die eine bibliophile Rarität ersten Ranges darstellt), sondern auch der Text Étienne Baluzes, der mit einer komfortablen Suchmaschine ausgestattet wurde: Hier wird erstmals die Möglichkeit geboten, die Sammlung Benedicts nach allen möglichen Kriterien zu durchsuchen. Ferner wurden sämtliche "Studien" von Emil Seckel digitalisiert; sie sind jetzt in zitierfähiger Form im Netz, zudem etliche andere Arbeiten, die generell oder in Einzelfragen benötigt werden: Neben zentralen Texten der Sekundärliteratur werden (teilweise als Erstedition) einige ansonsten schwer zugängliche Quellen- und Rezeptionstexte angeboten. Die Internetseite des Projektes dient somit nicht nur zur Demonstration der Arbeitsfortschritte, sondern auch als Arbeitsinstrument für die Mitarbeiter selbst sowie für dem Projekt nicht angehörende Wissenschaftler, und sie besitzt bereits jetzt, während das Editionsprojekt selbst noch nicht abgeschlossen ist, als "Spezialbibliothek" zu Benedictus Levita einigen wissenschaftlichen Wert.


aus: Protokoll des 84. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 2. Februar 2002