Aus dem Protokoll des 85. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 29. Juni 2002

 

Horst Schmieja (Köln)

Averroes Latinus. EDV-gestützt von CP/M bis TUSTEP

1. Projektbeschreibung

Im Rahmen dieses von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften getragenen Projektes sollen die ins Lateinische übersetzten Werke des Averroes kritisch ediert werden (Averroes Latinus). Die Forschung wird damit eine zuverlässige Textgrundlage erhalten für einen Autor, dessen Einfluß auf die abendländische Philosophie außerordentlich stark und folgenreich war. Der in der lateinischen Welt Averroes Genannte ist Abû l-Walîd Muhammad Ibn Ruschd, kurz Ibn Ruschd, ein arabischsprachiger, hispanischer Muslim. Ibn Ruschd wird 1126 in Córdoba geboren. Er ist Rechtsgelehrter und Arzt, und er steht der im islamischen Spanien und Teilen Nordafrikas regierenden islamischen Dynastie der Almohaden nahe. 1198 stirbt er in Marrakesch.

In der Bildungssprache seiner Kultur, dem Arabischen, bearbeitet Averroes die ihm zugängliche wissenschaftliche Literatur seiner Zeit. Seiner Beschäftigung mit dem Werke des Aristoteles kommt dabei der erste Platz zu. Mit einem großen Teil der griechischen wissenschaftlichen Literatur lagen die Aristotelischen Schriften seit dem 10. Jahrhundert im Arabischen vor. Es hat gewaltige Übersetzungsanstrengungen gegeben, deren Anfänge in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts lagen, und die ihren Höhepunkt dann im 9. und 10. Jahrhundert, vornehmlich in Bagdad hatten.

Averroes hat die Werke des Aristoteles genauestens studiert. Früchte dieses Studiums sind seine Kommentare, bei denen meist drei Typen unterschieden werden: die Epitome (ein kurzer Abriß des jeweiligen Wissenszweiges), der Mittlere und der Große Kommentar (im Arabischen üblicherweise genannt: jawâmi'ah, talkhîs, tafsîr). "Der Große Kommentar" ist hier ein terminus technicus für eine ganz bestimmte literarische Form, es ist nicht in erster Linie der Umfang der Schriften gemeint. Dabei segmentiert Averroes den Text des Aristoteles in Zitate unterschiedlicher Länge, und fügt jedem Zitat seinen ausführlichen Kommentar hinzu. In den meisten Manuskripten des Mittelalters wird das auch durch einen Schriftwechsel angezeigt.

   

Zu manchen Schriften des Aristoteles schrieb Ibn Ruschd Kommentare mehrerer Typen, und die einzelnen Kommentare eines Typs liegen darüber hinaus noch teilweise in unterschiedlichen Fassungen vor.

In den Übersetzungszentren des 13. Jahrhunderts, Spanien (Toledo) und Sizilien (Palermo), wurde ein großer Teil der Werke des Averroes aus der arabischen Sprache in das Lateinische übersetzt und somit dem abendländischen Mittelalter bekannt. Den größten Teil der Arbeit haben dabei geleistet: Michael Scotus, Wilhelm der Luna, Hermannus Alemannus.

Mittelalterliche Philosophen wie z.B. Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Siger von Brabant, Boethius von Dacien haben sich intensiv mit Averroes auseinandergesetzt. Das hohe Ansehen, das er schon bald bei diesen und anderen Denkern genoß, spiegelt sich u.a. darin wider, daß sie ihn den Commentator schlechthin nannten.

Das Material, das Grundlage dieser Edition ist, wurde von mittelalterlichen Schreibern und Gelehrten überliefert; es sind wertvolle Codizes des 13. und 14. Jahrhunderts, Pergamenthandschriften, die diese Texte enthalten. Entstanden sind sie durch Vervielfältigung, Kopieren, Abschreiben. Um möglichst viel Text auf den wertvollen Pergamentseiten unterbringen zu können, wurde übrigens fast jedes Wort abgekürzt. Die Schreiber entwickelten ein umfassendes System von Abbreviaturen. Um diese in Mittellatein verfaßten Texte lesen zu können, muß man also die einzelnen Kürzel zunächst auflösen, die Texte müssen transkribiert werden.

Beim Abschreiben haben sich zahllose Fehler eingeschlichen, und der Text wurde immer wieder neu verändert. Das Ziel unserer historisch-kritischen Edition besteht nun darin, das Original, den Ursprungstext möglichst annähernd wiederherzustellen, da in der Regel diese Originale oder sogar Autographen nicht erhalten sind. Mit der Edition der lateinischen Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts werden der Forschung wichtige Grundlagen der Philosophie des Mittelalters zugänglich gemacht.

Auch die dritte Gelehrtensprache der Zeit, das Hebräische, hat sich den arabischen Ibn Ruschd bald zu eigen gemacht. Deshalb haben wir einen arabischen, einen hebräischen und einen lateinischen Averroes.

2. Die Editionsgeschichte (von den Handschriften zur editio princeps und zur Junta)

Schon im Mittelalter, also im 13. Jahrhundert bereits, wurde der Physikkommentar in mehreren Versionen verbreitet. Er wurde bearbeitet, mit Korrekturen und Anmerkungen versehen, und anteilig wurden sogar Abschnitte aus anderen Übersetzungen (aliae translationes) eingearbeitet, d.h. der Text wurde recht unterschiedlich gelesen.

Wenn Averroes zitiert wird, bei Thomas von Aquin, Wilhelm von Ockham, Heinrich von Bate, Johannes von Janduno u.a., findet man bereits eindeutige Unterschiede, die wohl auf die handschriftliche Überlieferung selber zurückgehen. Man kann in Einzelfällen mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, welchen Codex der jeweilige Denker "zur Hand" hatte!

Wissenschaftlich bearbeitet und gedruckt liegen Werke des Averroes erstmals in der editio princeps von 1473 aus Padua vor. Dieser Edition liegt aber nur eine kleine Zahl von Manuskripten des Mittelalters zugrunde.

Grundlage der Editionen in der Renaissance im 16. Jahrhundert waren Manuskripte des beginnenden 14. Jahrhunderts. Die Gelehrten haben sich aber auch von der hebräischen Traditionslinie beeinflussen lassen; es waren nämlich vorwiegend Hebraisten, wie Paulus Israelita, Vitalis Nissus, Abram de Balmes, und in erster Linie Johannes Franciscus Bagolinus, der vornehmlich die Arbeit an der Ausgabe von 1550-1552 bewältigte. Und deswegen ist es zulässig zu sagen, daß es in der Edition, die bislang das Standardwerk zur Lektüre des Averroes darstellt, nämlich die editio apud iunctas = die JUNTA (auch: Die Venediger Edition), eigentlich keinen direkten und zuverlässigen Einblick in die ursprünglich lateinische Tradition des 13. Jahrhunderts gibt!

   

In jedem Fall aber ist es eine großartige Arbeit der Renaissance-Gelehrten gewesen, diese Edition in Angriff zu nehmen. Aber es ist eben keine kritische Edition, es fehlen ja sogar ganz elementare Teile einer solchen, wie die Praefatio mit der Auskunft über die Quellen und im Text die Varianten, auch wenn diese in Einzelfällen am Rand, wie es eher in den Handschriften üblich war, überliefert sind.

3. Die Neuedition als Averrois Opera - Averroes Latinus

Die Medieval Academy of America hat 1931 unter Leitung von Prof. H.A. Wolfson die Edition des Corpus Commentariorum Averrois in Aristotelem begonnen und bis etwa 1970 die Koordinierung des Gesamtvorhabens besorgt; sie hat jedoch nach dem Tode von Prof. Wolfson im September 1974 wiederholt der Union Académique Internationale (UAI), mitgeteilt, daß sie die sich ausweitenden Aufgaben für das Gesamtvorhaben künftig nicht mehr hauptverantwortlich wahrnehmen könne, und hat deshalb eine Konferenz zur Neuordnung der Organisation des Forschungsvorhabens angeregt. Unter Leitung von Prof. Gerard Verbeke als Promotor der UAI fand eine Tagung der bevollmächtigten Vertreter aller Sektionen in Köln im März 1978 statt. Neuer Direktor des Averroes Latinus und auch des Gesamtvorhabens der Averrois Opera wurde Prof. Albert Zimmermann, der damalige Direktor des Thomas-Instituts der Universität Köln. Gefördert wurde das Forschungsvorhaben zunächst durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).

Die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf hat im Einvernehmen mit der Universität zu Köln seit dem 1.1.1984 im Thomas-Institut eine Arbeitsstelle errichtet, die sich die kritische Edition der lateinischen Übersetzungen der Werke des Averroes zum Ziel gesetzt hat.

Während in arabischen Ländern und in Spanien die arabischen Werke und in Israel die hebräischen Übersetzungen ediert werden, gilt die Tätigkeit in der Arbeitsstelle im Thomas-Institut also nur den lateinischen Übersetzungen.

Leiter der Arbeitsstelle ist der Direktor des Thomas-Instituts:
Prof. Dr. Jan A. Aertsen
Wissenschaftliche Mitarbeiter:
Dr. Roland Hissette
Dr. Horst Schmieja
Wissenschaftliche Hilfskraft:
Hermann Hastenteufel M.A.

Das Gesamtprojekt unter der Schirmherrschaft der UAI einschließlich der Sektionen Averroes Arabicus und Averroes Hebraicus wird international unter Beteiligung von Wissenschaftlern aus 8 Staaten (Europa, USA, Vorderer Orient) durchgeführt. Die Zentraldirektion liegt seit 1996 bei Prof. Gerhard Endreß von der Ruhr-Universität Bochum.

4. Der Einsatz der Datenverarbeitung bei der Edition des Physikkommentars

Zu Beginn der Arbeiten hat es zum Physikkommentar keine Informationen und keine Vorarbeiten aus der Zeit in den USA gegeben. Auch war die Quellenlage noch nicht erforscht. Die Arbeitsanweisungen wurden formuliert nach den Erfahrungen, die andere Forscher in den Projekten Avicenna Latinus und auch Aristoteles Latinus erarbeitet haben. Die Zahl der Handschriften des Großen Kommentars zur Physik des Aristoteles, mehr als 60, brachte es mit sich, daß der erste Arbeitsgang, nämlich die Prüfung mit dem Ziel, eine Auswahl für die Edition zu treffen, sehr zeitaufwendig war. Textpassagen aus sämtlichen Manuskripten mußten transkribiert und miteinander verglichen werden. Ein zuverlässiges Stemma, also die genealogische Aufspaltung der Überlieferung mußte erarbeitet werden. Die Situation, daß es ausgerechnet für den Physikkommentar kein arabisches Original gibt, bzw. ein arabischer Text bislang nicht gefunden wurde, erwies sich dabei schon bald als erhebliches Handikap.

EDV-Einsatz:

Die Rationalisierungsvorschläge einiger Forschungsgruppen, die Gegenstand einer Fachtagung der DFG zum Einsatz von Computern waren (vgl. DFG-Veröffentlichung von 1978: probleme der edition mittel- und neulateinischer Texte), wurden zwar diskutiert, der Einsatz der Datenverarbeitung wurde aber in den ersten Jahren nicht nur skeptisch beurteilt, sondern expressis verbis abgelehnt. Mehrere Bücher des Physikkommentars wurden daher in traditioneller Weise transkribiert und mit der Schreibmaschine auf Kollationsbögen geschrieben, und es wurde damit begonnen, auf Karteikarten ein Wortverzeichnis zu erstellen und Übersetzungsvarianten etc. zu sammeln. Der EDV-Einsatz war dem privaten Engagement überlassen. Erste Hilfe bot NNPT (das Kürzel steht für: Nicht-Numerisches Programmsystem zur Verarbeitung und Analyse von Texten). Der Autor, Herr Wolfgang Kirsch, betreute schon damals als Mitarbeiter am Rechenzentrum der Universität Köln die geisteswissenschaftlichen Projekte. Seit 1976 konnte mit NNPT gearbeitet werden. Ein wohl letztes, überarbeitetes Handbuch wurde 1982 veröffentlicht. NNPT war in FORTRAN und auch in COMPASS (Maschinensprache) geschrieben, und zwar programmiert für die CYBER-Serie, in Köln war es damals die Cyber 76. Programmkommandos und Texte wurden zunächst über Steuer- bzw. Lochkarten zur Verarbeitung eingelesen, später dann konnte die Eingabe über Mikrocomputer erfolgen.

Mit NNPT konnten bereits mehrere typische Arbeiten einer großen Edition durchgeführt werden: Herstellen von Wortlisten, Wortindices, KWIC-Listen, und auch Auswertungen dieser Ergebnisse waren möglich. Listen konnten nach bestimmten Kriterien sortiert werden, und auch das Mischen von sortierten Listen war möglich. Ferner war Selektion möglich, beispielsweise konnten Wörter herausgesucht werden, die nur 1 Mal vorkommen, oder es konnte der gemeinsame Wortbestand zweier Listen festgestellt werden, ebenso der eigenständige Wortbestand nur einer von zwei Listen konnte herausgefiltert werden.

Mit dem Aufkommen der ersten Mikrocomputer änderten sich bestimmte Arbeits- und Verfahrensweisen. Texte und Steuercodes wurden nicht mehr über Lochkarten eingelesen, sondern als Datei dem Großrechner übermittelt. Diese Dateien konnten am gewohnten Arbeitsplatz mit dem Mikrocomputer erstellt werden. Ein aktueller Texteditor der damaligen Mikrocomputer war WORDSTAR, das Betriebssystem dieser Rechner war CP/M (CP/M = central program for microcomputers, ältestes Betriebssystem für Mikrocomputer). Seit dieser Zeit wurden die Texte der Handschriften nicht mehr auf Kollationsbögen erfaßt, sondern in jeweils einzelnen Dateien. Und mit kleinen ersten Programmen in CBASIC80 gelang es, automatisch erstellte Kollationsbögen zu drucken. Aus einer Datei, die einen Grundtext enthielt, wurde jeweils eine Zeile genommen, ausgedruckt, und anschließend wurden ausgewählte Sigeln von Handschriften am linken Rand untereinander ausgedruckt. In dieses "Formular" konnten dann in gewohnter Weise die Varianten zum Grundtext eingetragen werden.

In einem zweiten Schritt wurde eine Matrix für die Variantenerfassung und -darstellung generiert. Der Texteditor war natürlich auch ein geeignetes Modul für die Literaturerfassung, -dokumentation und -suche, die Zeit der Karteikarten war vorbei. Wie ein großer Zettelkasten wurde der kleine Computer genutzt, um Gedanken und Notizen festzuhalten, zunächst völlig ungeordnet zu erfassen. Wer weiß in den großen Zeiträumen solcher Projekte schon, welche gelesene Literatur, welches Material vielleicht einmal auch Bestandteil weiterer Untersuchungen werden wird, bzw. vielleicht auch Thema einer quellenkritischen Einleitung werden kann, die umfassend über die Handschriften, über Editionsmethoden, Strategien und auch Probleme etc. informiert. Solche Notizen werden zunächst immer eine recht persönliche Form haben, wichtig aber ist, daß sie nicht begrenzt werden müssen in einer Datei, daß es keine individuellen Abkürzungen gibt, mit denen ein Kollege, zur gleichen Zeit oder viele Jahre später, nichts anfangen kann.

Schon beim Transkribieren war der Einsatz des Computers eine wertvolle Hilfe. Ausführlichere Notizen, die sich nie in einem Kollationsbogen unterbringen ließen, konnten jetzt unmittelbar miterfaßt werden, und als Information oder Gedanke zu einzelnen auffälligen Textstellen festgehalten werden. Die traditionelle Arbeit des Kollationierens war nicht aufgegeben, sondern wesentlich erweitert worden. Schnell war der Gewinn einzuschätzen, daß einmal Geschriebenes und auf orthographische Korrektheit Geprüftes nicht wiederholt abgeschrieben werden muß, der Text ständig verfügbar war.

Das wohl entscheidende Ereignis, das den Durchbruch zur Nutzung der Datenverarbeitung bei der Edition des Physikkommentars brachte, war in Köln das Rundgespräch der philosophischen Editionen im März 1983. Die Lektüre der Ott-Fibel (EDV-Fibel für Editoren. Stuttgart/Tübingen1982) und die Gespräche mit namhaften Editoren (u.a. Schepers, Henrichs, Stadler) führten zur Überzeugung, daß sich die Arbeit mit einer konsequenten EDV-Unterstützung rationalisieren läßt.

Um (nicht zuletzt) ganz erhebliche Kosten bei Satz und Druck zu sparen, sollte ein maschinenfertiges Manuskript unmittelbar vom Editor angefertigt werden. Gerade beim Abschreiben schwieriger Textpassagen, vor allem aber im Umgang mit der lateinischen Sprache ist bei diesem Verfahren der zu setzende Text vor Fehlern, Änderungen und Eingriffen geschützt. Die Konsistenz der Orthographie wird frühzeitig sichergestellt, da Korrekturläufe und alphabetische Wortregister in jeder Phase der Texterfassung und Edition leicht durchführbar sind. Sogar die automatisierte Kollationierung zur Bestimmung der editionsrelevanten Handschriften in synoptischer Anordnung wurde bei jenem Treffen demonstriert.

Der Wunsch, griechisch-arabisch-lateinische Synonymenlexica erstellen zu können, und auch arabisch-lateinische Indizes, konnte mit der amerikanischen Software MLS (Multi-Lingual Scolar) erfüllt werden. Das Programm war für die aktuellen MS/DOS-Computer konzipiert. Im Februar 1989 wurde der von der Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf finanzierte Personal-Computer in der Arbeitsstelle installiert und mit MLS und WORD4 ausgestattet. Auf einem Laser-Drucker konnten arabische oder zweisprachige Texte in zufriedenstellender Qualität ausgedruckt werden.

   

Da MLS allerdings mit anderen gängigen PC-Formaten nicht kompatibel war, wurde es schon bald von der Hersteller-Firma nicht weiter ausgebaut und auch im weiteren Verlauf aufgegeben.

Es ist ein langer Weg bis zum TUSTEP-Einsatz geworden, und der Wechsel vielfältiger Software hat eigentlich unnötige Zwischenwege und -lösungen erforderlich gemacht. Seit August 1989 ist bei uns das "Tübinger System von Textverarbeitungs-Programmen" (TUSTEP) verfügbar, das von mehreren anderen Editoren seit vielen Jahren genutzt wird.

Der gesamte Text von Buch 8 wurde im Tustep-Format eingegeben; nach entsprechendem Einarbeitungsaufwand konnte als erstes Ergebnis ein Wortregister vorgelegt werden (262 Seiten), ein Personenindex und ein Sachindex, der als Gerüst für die weitere Differenzierung der Termini zusammengetragen wurde. Mit hohem Zeit- und Arbeitsaufwand wurden auch die meisten der alten Wordstar- und Word-Dateien auf das TUSTEP-Format umgestellt. Matrixddateien mit Linien, Sprüngen und Leerstellen erforderten einen nicht unbeträchtlichen Konvertierungsaufwand.

Auch wenn das SATZ-Programm von TUSTEP anfangs noch keine arabischen Zeichen darstellen konnte, war die Zeichenvielfalt für die Edition sofort schon beeindruckend. Die Zeichen für die Transliteration des Arabischen ließen keine Wünsche offen.

Im Texteditor von TUSTEP sind von großem Nutzen vorbereitete Kommandos wie ZEIGEN oder AUSTAUSCHEN. Sie werden regelmässig genutzt.

ZEIGEN: z.B. mit

zn,,,|<<ap1>><><%<</ap1>>|

werden nur die Apparat-Einträge aus Apparat 1 herausgefiltert und sichtbar gemacht. In dem Arbeitsmanuskript einer komplexen Edition, in der drei Apparate zu verwalten sind - mit vielen einzelnen Varianten, Notizen, Stellenangaben etc., - eine solche Auswahl treffen zu können, ist beeindruckend;

z.B. mit

zn,,,|>*>=01>=01|

wird eine gezielte Orthographiekontrolle gestartet. Es werden nur die Stellen aufgelistet, wo identische Kleinbuchstaben 3 Mal aufeinanderfolgen. Das Bild zeigt, daß in zwei Sätzen eines größeren Textes dieser Fehler vorliegt.

   

AUSTAUSCHEN:

Die Isolierung eines bestimmten Textbereiches, wenn z.B. ausschließlich in den Fußnoten bestimmte Zeichenfolgen automatisiert verändert werden sollen, ist eine Hilfe, die in der täglichen Arbeit am Monitor schnell angenommen wurde.

Von Anfang an wurden Wortformenlisten häufig genutzt:

1. Sie sind eine unschätzbare Hilfe bei der Prüfung der Konsistenz der Orthographie. In einer solchen alphabetisch sortierten Liste stehen falsch geschriebene Wörter an ungewohnter Stelle.

   

Beim Lesen eines fortlaufenden Textes in Korrekturfahnen werden sie bekanntermaßen eben doch leicht übersehen, hier fällt ein solches Wort (acccidentes) sofort auf!

2. Wortformenlisten eignen sich - auch in Kombination mit KWIC-Listen - in vorzüglicher Weise für die Ansetzung der Register-Einträge.

Besondere Beachtung verdienen die wichtigen Module VERGLEICHE und VERGLEICH-AUFBEREITE. Dazu werden zunächst die Texte der Handschriften separat erfaßt (mit allen Marginalien, Korrekturen, Interlinearglossen und persönlichen Anmerkungen!). Das ist nicht immer mit dem TUSTEP-internen Editor geschehen, sondern oft auch mit dem Windows-eigenen Wordpad oder einer anderen Textverarbeitung. Vor einer Weiterverarbeitung müssen Dateien, die mit einer fremden Software erstellt wurden, einheitlich in das TUSTEP-Format umgewandelt werden. Mit VERGLEICHE ist es nun möglich, in einer automatischen Kollationierung mit einem Grundtext die Überlieferungsvarianten einer ausgewählten Handschrift aufzufinden und nachzuweisen.

Beispiel:

In einem Grundtext lautet ein kurzer (grammatischer) Satz folgendermaßen:

10.13 Et haec dispositio cum in uno homine reperitur dignius est esse 10.14 divinus magis quam humanus.

Eine Handschrift des Mittelalters, die mit diesem Grundtext verglichen werden soll - hier durch ihr Sigel [Ac] identifiziert -, überliefert diesen Satz so:

10.14 Et cum haec dispositio in homine uno reperitur dignius foret esse 10.15 divinus quam humanus.

Das Protokoll der VERGLEICHE-Operation stellt die Unterschiede heraus (hier nur eine Version der möglichen Arten der Darstellung):

   

Erläuterung:

Jeder Satz und jedes Wort einer Datei wird TUSTEP-intern mit einer Positionskennung versehen. Betrachtet man im Satz 10.13 des Grundtextes die Position 1 (10.13, 1), dann hat TUSTEP festgestellt, daß an vergleichbarer Stelle in dem Manuskript Ac (10.14, 2) die Verknüpfung cum hinzugefügt ist (+ cum). An den Positionen 4 und 5, dort wo im Grundtext cum in steht ([cum in]), fehlen in Ac diese beiden Wörter (-). Es ist offenkundig, daß in Ac nur eine Umstellung vorliegt, der Schreiber hat den Textverlauf seinem Sprachgefühl angepaßt. Wenn man aber bedenkt, daß ein Computerprogramm bei einem derartigen Vergleich keine semantische Analyse vornehmen kann, dann ist schon an diesem kleinen Beispiel erkennbar, welch vortreffliche Lösung dieses Problems in TUSTEP gelungen ist.

TUSTEP hat mit VERGLEICH-AUFBEREITE ein Modul zur Verfügung gestellt, das mit einer zeilensynoptischen Ausgabe der festgestellten Textvarianten einen Hauptwunsch des Editors erfüllt. Das Kommando #VAUFBEREITE braucht als Eingabedatei die Ergebnisdatei aus einem besonderen VERGLEICHE-Lauf, in dem alle oder ausgewählte Handschriften mit dem Grundtext nacheinander verglichen werden. Diese Prozedur dauert mit Hilfe eines mittleren Rechners (Pentium II) ca. 1 Minute, wenn man etwa 10 Schreibmaschinenseiten aus jeder der 60 Manuskripte zugrundelegt!

Um einen geeigneten Überblick zu bekommen, läßt sich die Reihenfolge, in der diese Manuskripte innerhalb der Synopse jeweils auf dem Monitor erscheinen, vorher in einer Steuerungsdatei bestimmen. Das kleine Beispiel mit nur 8 Handschriften zeigt, wie VAUFBEREITE den Grundtext spreizt, wenn Hinzufügungen dargestellt werden müssen, wie Umstellungen im Satz auffällig werden und wie die Varianten schon dadurch hervorgehoben werden, daß gleichlautender Text unterdrückt, oder durch frei wählbare Zeichen markiert wird. Die Anordnung der Manuskripte in dieser Reihenfolge erlaubt auch schon Vermutungen über gegenseitige Abhängigkeiten bzw. Gruppierungen. Mit Hilfe dieser Synopse ist also eine Möglichkeit gefunden, die genealogische Aufspaltung der Handschriften zu ermitteln und somit ein Stemma zu erstellen, eine Baumgrafik, in der die "Verwandtschaftverhältnisse" der Handschriften zueinander aufgezeigt werden.

   

Nach entsprechender Einarbeitung wird inzwischen auch der Programmteil SATZ genutzt. Mit diesem Modul wird eine Postscript-Datei erzeugt, die auf professionellen Satzbelichtern den Druck eines kompletten Buches steuert. Das Beispiel zeigt, daß auch arabische Zeichen möglich sind:

   

5. Ausblick: Vorbereitung für eine CDROM-Version

Die Umsetzung dieses Wunsches scheint mit TUSTEP möglich zu sein, da sehr wahrscheinlich auch Apparate, arabische und griechische Texte bzw. zweisprachige Indizes realisierbar sind.

Das Projekt Averroes Latinus steht im WWW unter:
http://www.uni-koeln.de/phil-fak/thomasinst/akaaver4.htm
 


aus: Protokoll des 85. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 29. Juni 2002