Aus dem Protokoll des 87. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 25. Januar 2003
Michael Stolz
Wolframs Parzival.
Probleme der elektronischen Edition eines reich
überlieferten Textes
Seit 2001 arbeiten wir in einem Projektteam der Universität Basel an einer elektronischen Teiledition des Parzival Wolframs von Eschenbach (siehe: http://www.parzival.unibas.ch ).
Der in den Jahren zwischen 1200 und 1210 entstandene Versroman liegt gegenwärtig in leicht überarbeiteten Ausgaben der maßgeblichen Edition von Karl Lachmann aus dem Jahr 1833 vor. Lachmann war sich bewusst, dass er anhand der ihm verfügbaren Textzeugen keinen Autortext erstellen konnte, aber letztlich zielte sein Editionsverfahren doch auf einen solchen Autortext hin. Pragmatische Erwägungen zwangen Lachmann auf eine genauere Darstellung der Überlieferung zu verzichten. Genau bezeichnete er nur die Lesarten der beiden Haupthandschriften aus der Mitte des 13. Jahrhunderts: des St. Galler Codex 857 (Parzival-Hs. D) und des Münchner Cgm 19 (Parzival-Hs. G). Die übrigen Textzeugen ordnete er mit einer Gruppenbezeichnung jeweils einer dieser beiden handschriftlichen Fassungen zu: die zum Überlieferungszweig der Handschrift D gehörenden Textzeugen mit der Sigle d, die zu jenem von Handschrift G gehörenden Textzeugen mit der Sigle g. Für seine Ausgabe berücksichtigte Lachmann sieben vollständige Handschriften, ein knappes Dutzend Fragmente sowie einen Straßburger Druck vom Jahr 1477.
Inzwischen ist die Zahl der bekannten Handschriften auf mehr als das Doppelte, die Zahl der entdeckten Fragmente gar auf mehr als das Fünffache angestiegen. Der Blick auf die in den Überlieferungszeugen begegnenden Textgestalten zeigt, dass es den einen Parzival im Mittelalter gar nicht gab. Vielmehr begegnen Textredaktionen, die einerseits noch in der näheren Umgebung des Autors entstanden sein dürften, andererseits jedoch das Werk späterer Bearbeiter darstellen. Der genauere Blick auf die Überlieferung zeigt, dass besonders aus dem 14. Jahrhundert Überarbeitungen erhalten sind, in denen es zu Texterweiterungen und Textkürzungen, aber auch zu durchaus bedeutenden inhaltlichen Veränderungen kommt. Diese Sachlage lässt es geraten erscheinen, eine Editionsform zu wählen, die den Textvarianzen angemessen Rechnung trägt.
Anders als bei Lachmann wird ein mutmaßlicher Autortext, der überlieferungsgeschichtlich ohnehin unerreichbar ist, nicht das höchste Ziel der editorischen Bemühungen sein. Das Hauptaugenmerk gilt vielmehr der möglichst verlässlichen Darstellung der Überlieferungsvielfalt, wie sie in den handschriftlichen Kontexten vorliegt. Nicht zuletzt die Diskussion um die sogenannte New Philology, die im vergangenen Jahrzehnt auf beiden Seiten des Atlantiks stattfand, förderte eine solche Neuorientierung an den textlichen und materiellen Eigenarten der Überlieferungsträger. Im Falle des Parzival umfasst der Blick auf das handschriftliche Erscheinungsbild einen Zeitraum von nahezu drei Jahrhunderten. Räumlich erstreckt sich die Überlieferung von den Dialektgebieten des Alemannischen, Ostfränkischen, Bairischen und Böhmischen über das Mitteldeutsche (Ripuarisch) bis hinein ins Niederdeutsche (Ost- und Westfälisch).
Diese Überlieferungssituation ist nur in einer Mehrtextedition angemessen darstellbar. Sie muss einerseits der Eigenart der überlieferten Textzeugen Rechnung tragen, muss andererseits aber die Benutzer davor bewahren, sich in der bloßen Masse von Varianten zu verlieren. Eine elektronische Darstellungsweise dürfte die angemessene Form sein, diesen Anspruch zu verwirklichen.
Im Rahmen des Basler Parzival-Projekts arbeiten wir derzeit mit der Präsentation auf einem Computerbildschirm, der aus vier Fenstern besteht:
Das Fenster links oben enthält einen normalisierten Basistext, der sich an einer Leithandschrift, dem St. Galler Codex 857 (Hs. D), orientiert. Das darunter befindliche Fenster bietet einen Variantenapparat traditionellen Zuschnitts, der vom Basistext aus über Hypertext-Links ansteuerbar ist: Die blau gefärbten Wörter des Basistexts verweisen auf Varianten, die per Mausklick aufgerufen werden können. Der Variantenapparat seinerseits ist über die Handschriftensiglen mit den Transkriptionen der einzelnen Überlieferungszeugen - im Fenster rechts oben - verlinkt. Die Transkriptionen schließlich sind mit den digitalisierten Faksimiles der einzelnen Manuskripte - im Fenster rechts unten - vernetzt. Auf diese Weise werden die in den Transkriptionen nur unzureichend erfassbaren handschriftlichen Eigenarten wie Layoutverfahren, Initial- oder Bildschmuck angemessen vermittelt.
Wir arbeiten in Basel gegenwärtig an der Verbesserung dieses statischen Bildschirmmodells. Gedacht ist dabei vor allem an weitere Informationsbestandteile, die optional ein- bzw. ausblendbar sind, etwa an eine neuhochdeutsche Übersetzung des Basistexts und einen editorischen Kommentar. In einer späteren Projektphase werden wir die beiden Haupthandschriften (den St. Galler Codex 857 und die Münchner Handschrift Cgm 19) parallel nebeneinander stellen, um von diesen beiden Überlieferungsträgern aus den Zugriff auf weitere handschriftliche Untergruppen zu ermöglichen.
Unter editorischen Gesichtspunkten beabsichtigen wir außerdem, die elektronische Präsentationsform in eine Buchausgabe überzuführen. Dabei können die beiden Fenster der linken Bildschirmhälfte übernommen werden: der Basistext als Grundlage eines neuen kritischen Textes, die im darunter befindlichen Fenster verzeichneten Lesarten als Variantenapparat. Mit diesem Verfahren soll dereinst die komplementäre Benutzung der Buchausgabe und der elektronischen Edition ermöglicht werden. Wolframs Parzival kann auf diese Weise linear in den an den Haupthandschriften orientierten Textgestalten gelesen werden. Zugleich werden neue Lektüreweisen möglich, so im vernetzten Zugriff auf unterschiedliche Textzustände, auf verschiedene Redaktionen und handschriftliche Fassungen. Voraussetzung für diese Darstellungsweise sind überlieferungsgeschichtliche und stemmatologische Untersuchungen, welche die Relationen klären, in denen die einzelnen Überlieferungsträger zueinander stehen.
Das skizzierte editorische Unternehmen bedarf vielfältiger Vorbereitungsarbeiten. Grundlage der elektronische Textausgabe sind präzise Transkriptionen der einzelnen Überlieferungsträger und deren Kollation. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Arbeit des ersten Projektjahrs wurde auf die Erstellung zuverlässiger Transkriptionsrichtlinien verwendet, die paläographische Besonderheiten wie Buchstabenformen, Abbreviaturen und Korrekturen ebenso abdecken wie beispielsweise Marginalien oder Probleme der Zeilenordnung. Für die Transkriptionen verwenden wir das Programm Tustep. Schon nur die Suchfunktionen des Editors ermöglichen hier das rasche Auffinden identischer oder ähnlicher Transkriptionsphänomene. Der differenzierte Zeichenvorrat gestattet mit seinen Kodierungen die Wiedergabe komplexer paläographischer Eigenarten. Handschriftliche Besonderheiten wie Initialenschmuck oder Korrekturen werden mit einem projektbezogenen Tagging-System ausgezeichnet, das über Austausche-Anweisungen in andere Systeme - etwa jenes der Text Encoding Initiative - überführt werden kann. Besonders schwierig zu transkribierende Abschnitte einzelner Manuskripte werden doppelt erfasst, was die Kontrolle der Abschriften mittels des Tustep-Vergleiche-Programms ermöglicht.
Die Herausforderung, vor die sich das Parzival-Projekt gegenwärtig gestellt sieht, ist die Frage, wie bei den Kollationen technisch zu verfahren ist. Das Tübinger Textverarbeitungsprogramm Tustep und das in Oxford und Leicester entwickelte Programm Collate bieten hier durchaus interessante Alternativen. Im Folgenden sollen einige Aspekte der Arbeit mit beiden Programmen vorgestellt werden, dies jedoch nicht mit der Absicht, das eine System gegen das andere auszuspielen. Vielmehr gilt es, verschiedene Eigenheiten und deren Anwendung in den Kollationsverfahren aufzuzeigen.
Ausgangspunkt jeder auf Transkriptionen basierenden Kollation wird eine zeilensynoptische Darstellung der Texte der einzelnen Überlieferungszeugen sein. Das vorliegende Beispiel zeigt eine mit dem Programm Collate erstellte Synopse:
Zuoberst steht dabei der am St. Galler Codex orientierte Basistext, der die Kollationsgrundlage bildet. Darunter reihen sich, beginnend mit der St. Galler Parzival-Handschrift D die übrigen Textzeugen an. Sie werden jeweils durch Handschriftensiglen eingeleitet, die einem in der Parzival-Philologie der neunziger Jahre entwickelten Siglen-System entsprechen. (1)
Der ausgewählte Passus enthält Verse aus dem Schlussteil der Dichtung, in denen sich Parzival anschickt, die Erlösungsfrage zu stellen. Das Textbeispiel beginnt - gemäß der von Lachmann übernommenen Einteilung der Dichtung in Dreißigerabschnitte - mit Abschnitt 795, Vers 20. Die Versangabe steht in Spitzklammern über der Synopse; der betreffende Vers lautet im Basistext: alweinde Parzivâl dô sprach.
Bei den Überlieferungszeugen verweisen die von eckigen Klammern eingerahmten Asterisken auf Textteile, die gegenüber dem Basistext fehlen. Auffällig ist hier, dass einige Handschriften, die übrigens alle dem elsässischen Raum zuzuordnen sind, auf das einleitende Adverb alweinde verzichten: Während Parzival in der sonstigen Überlieferung den Gralkönig Anfortas unter Tränen anspricht, wird der Hinweis auf das Weinen in den Handschriften m, n, o sowie V, V' und W unterdrückt. Dieses Detail ist für die literaturwissenschaftliche Interpretation der Überlieferung durchaus von Belang, wenn man bedenkt, welche Rolle öffentlich zur Schau gestellte Emotionen in der mittelalterlichen Kommunikation spielen. Was es für die Herrschaftsrepräsentation bedeuten kann, wenn der König weint, haben neuere kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungen gezeigt. (2)
Die Tilgung des einleitenden Adverbs führt in den betroffenen Handschriften zu einer syntaktischen Veränderung. Die Textfassung lautet hier zumeist (in normalisierter Schreibweise): Parzivâl zuo im dô sprach. Dabei wird die Zeitangabe dô ("damals") um den Hinweis auf den Adressaten der Rede - nämlich Anfortas - erweitert. Nur ein Überlieferungszeuge, die Handschrift R, verzichtet völlig auf diese Angaben.
Bei Superskripta wie in der Präposition zuo begegnet eine [s]-Kodierung, die den Konventionen von Collate entspricht. Wir haben die zunächst mit Tustep erstellten Transkriptionen durch Konvertierungsverfahren in ein für Collate lesbares Dateiformat gebracht und dabei auch die einzelnen Kodierungen ausgetauscht. Das Superskriptum x besagt, dass die sichere Festlegung auf einen bestimmten übergeschriebenen Buchstaben, etwa e oder o nicht mehr erfolgen kann. Dies ist z.B. in den Handschriften m, n, o der Fall, die in der Mitte des 15. Jahrhunderts in der elsässischen Lauber-Werkstatt entstanden. Buchstaben in runden Klammern - z.B. beim Wort i(m)me (Hs. V) - zeigen die Auflösung von Abbreviaturen an.
Eine weitere für die Überlieferung charakteristische Variante zeigt sich in der folgenden Zeile. Dort fordert Parzifal seinen Onkel Anfortas auf: saget mir wâ der grâl hie lige. Diese Version haben die Handschrift D und die Lauber-Handschriften m n o, die mit D in der Regel eine Gruppe bilden. Hinzu kommen die Textzeugen V, V' und W, die teilweise mit D, teilweise aber auch mit dem durch die Handschrift G vertretenen Überlieferungszweig übereinstimmen. G selbst und die an dieser Stelle mit G eine Gruppe bildenden Handschriften bieten statt des einleitenden Imperativs saget die Form nv zeiget. An dieser Variante lässt sich die Gliederung der Parzival-Überlieferung in die beiden Hauptzweige *D und *G recht deutlich erkennen.
Das Programm Collate erstellt aus solchen Varianten automatisch eine Kollation, doch ist ein Eingreifen durch die menschlichen Bearbeiter möglich, ja nötig. Erst durch ein interaktives Vorgehen gewinnt die Kollation ihre definitive Gestalt. Dabei müssen die vielfältigen Varianten der Überlieferung jeweils einzeln regularisiert werden. Zwar verfügt das Programm über eine Ersetzungsfunktion, mit der regelmäßig wiederkehrende Varianten herausgefiltert werden können. Aber das Verfahren der Einzeleingabe solcher Varianten deckt letztlich doch nur einen Bruchteil der im Laufe der Kollationen begegnenden Lesarten ab. Ein mit Collate interaktiv hergestellter Variantenapparat der Parzival-Verse 795.20f. sieht folgendermaßen aus:
Eine weitere Besonderheit von Collate stellt der mechanistische Umgang mit der Versordnung dar. Die Verse werden stets einzeln mit Positionsangaben versehen. Im Rahmen des Basler Parzival-Projekts orientieren wir uns dabei vorab an der Zählung Karl Lachmanns. Jeder Vers erhält - jeweils in Spitzklammern vorangestellt - die entsprechende Zeilenangabe aus Lachmanns Ausgabe. Bei Fehlversen steht die Zeilenangabe ohne einen Verseintrag. Bei Versumstellungen folgt die Versordnung jener der Handschrift, während die von Lachmann übernommene Verszählung beibehalten wird. Zusatzverse erhalten die Zählung des letzten regulären Verses, ergänzt durch 1 (für den ersten Zusatzvers), durch 2 (für den zweiten Zusatzvers) usf. Als solche werden sie in den Basistext eingetragen.
Aufgrund dieser mechanistisch gesetzten
Versangaben werden in Collate vor
Beginn der Kollationen automatisch
Datenbanken erstellt, in denen die
Versordnung der einzelnen Textzeugen gespeichert wird.
In den Kollationen werden Fehlverse oder
Versumstellungen dann automatisch
verzeichnet. Das Verfahren hat den Vorteil,
dass bei den verschiedenen Textzeugen die
Korrelation der Zeilenordnung mit jener des
Basistextes nicht jeweils im Einzelnen
festgesetzt werden muss. Dies spart
angesichts der nicht geringen Versausfälle,
die vor allem im Schlussteil der Dichtung
begegnen, Zeit und umständliches Suchen.
In einem nächsten Schritt sollen nun
Kollationsverfahren vorgestellt werden, die
auf der Basis von Tustep ablaufen.(3) Auch
mit diesem Programm kann - über das Kommando
Vergleiche - eine Verssynopse erstellt
werden. Der besprochene Parzival-Abschnitt
sieht hier - nach der Ausgabe in eine
Postscript-Datei -folgenderma�en aus:
Wörter, die mit dem als Kollationsgrundlage
gewählten Basistext übereinstimmen, sind
durch ein Gleichheitszeichen ersetzt. Wörter,
die gegenüber dem Basistext fehlen,
erscheinen als Leerstelle.
Man könnte die horizontale und die vertikale
Achse der Synopse mit linguistischen Termini
bezeichnen, die von Sprachwissenschaftlern
wie Louis Hjelmslev und Roman Jakobson
maßgeblich geprägt wurden.
(4)
Der in horizontaler Richtung verlaufende
Einzelvers wäre dann als die syntagmatische
Achse der Kombination aufzufassen, die in
vertikaler Richtung verlaufende Kolonne als
die paradigmatische Achse der Selektion.
Roman Jakobson verwendet dieses Modell, um
Gesetze der poetischen Sprache zu
beschreiben, etwa die Selektion des Adjektivs
horrible, das auf der paradigmatischen
Achse unter semantisch gleichwertigen
Adjektiven (z.B. terrible,
disgusting) ausgewählt wird, und das
auf der syntagmatischen Achse mit dem Namen
Harry kombiniert wird. Die auf diese
Weise zustande kommende Paronomasie
horrible Harry erfüllt nach Jakobson
eine poetische Funktion, da hierbei das
Prinzip der Äquivalenz von der Achse der
Selektion auf die Achse der Kombination
projiziert werde.
Um eine solche Äquivalenz geht es auch bei
der Arbeit des Kollationierens, freilich
nicht auf der syntagmatischen Achse der
Kombination, sondern allein auf der
paradigmatischen Achse der Selektion.
Letztlich besteht die Tätigkeit des
Kollationierens darin, in den einzelnen
Kolonnen die dem Basistext entsprechenden
Wörter auszuwählen und zu entscheiden, ob
diese als Varianten zu gelten haben oder
nicht. Bei dem einleitenden Wort
alweinde wird man die entsprechenden
Formen in den Handschriften G, M, Q und Z
aussondern. Bei Handschrift D, L, R und
gegebenenfalls auch I ist es Ermessenssache,
ob man die nicht synkopierten Formen
alweinende bzw. alweinund(e) als
Varianten zählt oder nicht. Wir haben uns
dafür entschieden, diese Lesarten zu
verzeichnen. Ebenso wird man im Blick auf die
paradigmatische Achse das Fehlen des Adverbs
in den Handschriften m, n, o sowie in V, V'
und W verbuchen. In W ist es ferner wichtig,
die Standesbezeichnung Herr nicht als
Variante von alweinde zu werten,
sondern sie zum Namen des Titelhelden zu
ziehen: Herr partzifal ist hier
Variante zu Parzivâl.
Die Selektion auf der paradigmatischen Achse
betrifft aber nicht nur die Bestimmung der
Varianten, sie betrifft auch Entscheidungen
im Hinblick auf die Erstellung des
Basistexts. Dieser orientiert sich zwar
primär an einer Leithandschrift, hier der
Handschrift D, doch folgt die Textgestalt
mitunter auch anderen Überlieferungszeugen.
So haben wir uns in Vers 795.20 gegen die
Leithandschrift für die synkopierte Form
alweinde entschieden, die
beispielsweise in Handschrift G begegnet.
Ausschlaggebend waren vorab metrische
Überlegungen - die Form passt besser in das
alternierende Versmaß des höfischen
Vierhebers: alweinde Parzivâl dô
sprach. Wer die nicht synkopierte Form
wählt, könnte freilich argumentieren, dass
die dem Versmaß gegenläufige Zusatzsilbe
Parzivals Schluchzen nachgerade hörbar macht:
al wein-en-de Parzivâl dô sprach.
Ein solches Spiel mit dem Versmaß ist für den
Autortext zweifelsfrei nachweisbar. Erinnert
sei an den Namen von Parzivals Ehefrau, der
mit "beschwerten Hebungen" einen ganzen Vers
füllen kann: Condwîrâmûrs (283.7 u.ö.).
Bei derart komplexen Entscheidungen kann der
Einsatz des Computers helfen, das Material zu
sichten, aber er kann den Bearbeitenden deren
Entscheidungen selbstverständlich nicht
abnehmen. Im Folgenden soll gezeigt werden,
welche Unterstützungen das Programm
Tustep bei der Materialanalyse leisten
kann. Der Übersichtlichkeit halber soll die
Demonstration auf drei ausgewählte
Handschriften beschränkt bleiben: G, R und V.
Die vorliegende Abbildung zeigt eine auf
diese drei Handschriften reduzierte Synopse,
die aus Einzelvergleichen der drei
Handschriften mit dem Basistext gewonnen ist.
Gleichheitszeichen verweisen erneut auf
buchstabengetreue Übereinstimmungen mit dem Basistext.
Auf der paradigmatischen Achse kann die
Anzahl der Äquivalenzen um ein vielfaches
erhöht werden, wenn man in die Programmdatei,
welche die Einzelvergleiche durchführt,
Filterregeln für die Identitätsprüfung einbaut.
Das Ergebnis ist in der vorliegenden Synopse zu sehen:
Hier haben die Stellen mit
Gleichheitszeichen deutlich zugenommen, was
einer entsprechend reduzierten Zahl von
Varianten entspricht. Dabei kamen u.a.
folgende Filterregeln zur Anwendung:
Belanglos für den Vergleich sind aufgelöste
Abkürzungen wie alweind(e) in
Handschrift G (795.20), ferner das
Vorhandensein bzw. Fehlen von Akzenten, etwa
bei do in Handschrift G und V. Ebenso
wird man verschiedene Formen des Namens
Parzivâl (795.20, G und R)
unberücksichtigt lassen - so zumindest bei
den Hauptfiguren der Erzählung.
Bei der Wortform sprah. (795.20, G)
gilt die Schreibung h im Auslaut als
äquivalent mit ch, da in dieser
Position beide Graphien den gutturalen
Reibelaut bezeichnen können. Außerdem
entfallen Interpunktionszeichen, hier die
Setzung eines Punktes.
In Vers 795.21 kann die Imperativform
Sage(n)t (Hs. V) nicht als Variante zur
Form saget gerechnet werden, da sie
eine dialektale Eigenart des Alemannischen
darstellt. Mit entsprechenden weiteren
Maßnahmen ließe sich diese Beispielreihe fortsetzen.
Die Fülle von Phänomen, die sich bereits aus
einem kleinen Textabschnitt von nur wenigen
Versen eruieren lässt, zeigt die Problematik
des Verfahrens auf. Man wird einen großen
Teil der Projektzeit mit der Formulierung und
Überwachung der Filterregeln verbringen.
Man wird darauf zu achten haben, dass die Filter
auch in allen Fällen greifen und nicht
ungewollt solche Stellen erfassen, die man
mit gutem Grund als Varianten verbuchen
möchte. In einigen Fällen können
orthographische Unterschiede auch eine
semantische Funktion haben.
(5)
Nicht alle dieser Fälle lassen sich beim
Formulieren der Filterregeln auch schon
absehen. Zwar ist es unter Tustep
möglich, die herausgefilterten Äquivalenzen -
geordnet nach unterschiedlichen Kriterien -
in jeweils eigene Dateien schreiben zu
lassen. Aber diese Ergebnisdateien im
einzelnen durchzusehen, dürfte kaum weniger
Zeitaufwand kosten, als die Varianten in
einem interaktiven Prozess zu sortieren, wie
dies in der Programmroutine von Collate
geschieht.
Wir möchten angesichts dieses Befundes dazu
anregen, auch unter Tustep eine
interaktive Schaltfläche für
Kollationsvorgänge einzurichten, was etwa
durch ein spezielles Makro geschehen könnte.
Die effizienteste Lösung dürfte vermutlich in
einer Kombination von automatischem und
interaktivem Kollationieren liegen. Dort wo
das automatische Kollationieren nicht oder
kaum zu verfälschten Ergebnissen führen kann
- etwa bei aufgelösten Abkürzungen oder
bestimmten Auslautphänomenen -, wählt man
diese über bestimmte Filterregeln erzielbare
Kollationsart. In allen anderen Fällen
bedient man sich einer interaktiven Routine.
Ein interaktives Vorgehen wäre allenfalls
auch bei der Erzeugung der Apparateinträge zu
erwägen. Die vorliegende Abbildung zeigt
einen Apparat zu Vers 795.20f., in dem die
Einzelvergleiche der Textzeugen G, R und V
mit dem Basistext zusammengefasst worden sind:
Der geschilderte Bedarf verstärkt sich im
Hinblick auf die Quantität der Textzeugen.
In der Tat hat der Apparat ja nicht nur drei,
sondern - je nach Vorhandensein der
Fragmentüberlieferung - 16 und mehr
Handschriften zu berücksichtigen. Dies führt
einerseits zu umfangreicheren Routinen bei
der automatischen Einarbeitung der
Einzelvergleiche in den Apparat. Andererseits
dürfte hier das Erfordernis eines
interaktiven Eingreifens bei der
Homogenisierung der einzelnen Apparateinträge zunehmen.
Der Blick auf die Synopsen der
Parzival-Überlieferung mag den Anschein
erwecken, dass der Editor eines so reich
überlieferten Textes Gefahr läuft, sich in
den Koordinaten paradigmatischer und
syntagmatischer Achsen zu versteigen. In
dieser Fährnis bietet der Einsatz des
Computers ein wertvolles Rüstzeug, wenn nicht
gar einen Rettungsanker. Der Rechner sollte
als elektronisches Hilfsmittel genutzt und
den Bedürfnissen unterschiedlicher
Überlieferungsquantitäten und -qualitäten
angepasst werden. Die Möglichkeit eines
interaktiven Kollationierens erscheint uns im
Basler Parzival-Projekt als ein gangbarer Weg
zu diesem Ziel. Die Kombination mit
automatisierten Arbeitsschritten vereinfacht
die interaktiven Verfahren, die ihrerseits
eine größtmögliche Kontrolle über das zu
bearbeitende Material gewährleisten.
(1) Heinzle, Joachim: Klassiker-Edition heute,
in: Methoden und Probleme der Edition
mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger
Fachtagung 26.-29. Juni 1991.
Plenumsreferate, hrsg.v. Rolf Bergmann/Kurt
Gärtner u.a., Tübingen 1993 (Beihefte zu
editio 4), S. 50-62, hier S. 62.
(zurück)
(2) Althoff, Gerd: Der König weint. Rituelle
Tränen in öffentlicher Kommunikation, in:
'Aufführung' und 'Schrift' in Mittelalter und
Früher Neuzeit, hg.v. Jan-Dirk Müller,
Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische
Symposien. Berichtsbände 17), S. 239-252.
(zurück)
(3) Für praktische Hilfen
bei der Umsetzung danke ich Dr. Michael Trauth
(Universität Trier).
(zurück)
(4) Hjelmslev, Louis: Principes de grammaire
générale, Kopenhagen 1928; Jakobson, Roman:
Linguistics and Poetics, in: ders.: Language
in Literature, hg.v. Krystyna Pomorska/Stephen Rudy,
Cambridge (Mass.) 1987, S. 62-94.
(zurück)
(5) Ott, Wilhelm: Textkritik. Vom Textzeugen
zum Apparat, in: Maschinelle Verarbeitung
altdeutscher Texte V. Beiträge zum Fünften
Internationalen Symposium Würzburg 4.-6. März
1997, hrsg.v. Stephan Moser u.a., Tübingen 2001,
S. 309-320, hier S. 315.
(zurück)
aus:
Protokoll des 87. Kolloquiums
über die Anwendung
der EDV in den Geisteswissenschaften am 25. Januar 2003
Das fehlende Temporaladverb dô in
Handschrift R wird dabei korrekt mit
om. wiedergegeben. Den Langeintrag zu
Handschrift V dagegen wird man bei der
Bearbeitung des Apparats präzisieren wollen.
Hier wären zwei gesonderte Lemmata
wünschenswert: Das eine sollte das Fehlen des
Adverbs alweinde verzeichnen, das
andere die Ersetzung des Temporaladverbs
dô durch das Syntagma zvo [[zv mit "o" über dem "v"]] i(m)me do.
Anmerkungen